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Bistum Chur

Infoblatt 2015/1 – Aus der Bistumsleitung

Eine missionarische Entscheidung

Gerne benütze ich die Gelegenheit, zu Beginn des Jahres 2015 allen Priestern, Diakonen und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Bistümern für ihren Dienst in der Kirche zu danken und sie zu ermutigen, diesen Dienst mit Elan und Ausdauer fortzusetzen. Ich tue dies persönlich und im Namen der Bischöfe, die in der Deutschschweizer Ordinarienkonferenz (DOK) vertreten sind. Zugleich möchte ich zum Jahresbeginn zu einer Reflexion einladen darüber, welchen Weg die römisch-katholische Kirche in unserem Land in den nächsten Jahren einschlagen soll.

Diagnose

Als Ausgangspunkt möchte ich eine bei über 1000 Personen durchgeführte repräsentative Umfrage wählen, welche die “Reformierte Presse” im vergangenen September publiziert hat. Bekanntlich will die “Sterbehilfeorganisation” EXIT zukünftig ihre “Dienstleistung” nicht nur unheilbar kranken und schwer leidenden Menschen zugänglich machen, sondern ebenfalls Alten und Lebenssatten. Auch den so genannten “Bilanzsuizid” will EXIT somit “begleiten”. 68 Prozent der Befragten beurteilen es nun offenbar als «eher gut» oder «sehr gut», wenn EXIT ihr Tätigkeitsgebiet ausweitet. Wohlgemerkt: Es wurde seitens der “Reformierten Presse” nicht gefragt, ob man die Suizidbeihilfe für schwer oder terminal Kranke befürworte. Dann wäre die Zustimmungsrate wohl noch höher ausgefallen. Und es muss uns zu denken geben, wenn 71 Prozent der Meinung sind, Religionen sollten den Menschen bezüglich der “Sterbehilfe” keine Vorschriften machen.

Es steht ausser Frage, dass die Selbsttötung mit dem christlichen Glauben nicht in Einklang zu bringen ist. Selbstverständlich gilt es, zwischen der durch die Umstände bedingten subjektiven moralischen Anrechenbarkeit im Einzelfall und dem objektiven Tatbestand als solchem zu unterscheiden. Aber bezüglich letzterem ist klar: Die Kirche lehnt “den Selbstmord und die freiwillige Beihilfe dazu [ab], weil er ein schwerer Verstoß gegen die rechte Liebe zu Gott, zu sich selbst und zum Nächsten ist” (Kompendium zum Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 470).

Man könnte auch zu anderen christlichen Grundüberzeugungen Meinungsumfragen durchführen, etwa zur Frage der Abtreibung. Und man würde vermutlich ähnliche Ergebnisse erhalten. Dies führt zur Diagnose: Wer ganz zum christlichen Glauben steht, wer damit auch glaubt, dass der Mensch nicht die oberste und letzte Instanz ist, der gehört in unserem Land einer Minderheit an. Und zur Diagnose gehört auch, dass man nicht einfach Stilfragen kirchlicher Verkündigung verantwortlich machen kann dafür, dass inzwischen über zwei Dritteln der Bevölkerung die Einmischung von Religionsgemeinschaften in ihre Lebensentscheidungen als unerwünscht gilt.

Therapie

Wenn wir uns fragen, wie wir heute als Kirche handeln sollen, muss diese doppelte Diagnose am Anfang stehen. Die Therapie richtet sich dann nach dieser Diagnose. Aber wie kann sie aussehen? Wenn ich das Agieren der christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften – die evangelikalen Freikirchen eingeschlossen – in unserem Land betrachte, vermag ich, etwas vereinfacht gesagt, zwei Antworten zu erkennen. Die eine Tendenz geht dahin, Themen und Aktivitäten herauszustellen, die für die Gesellschaft sozial nützlich sind und die deshalb breite Zustimmung finden. Eine Nebenwirkung dieser Therapie ist es allerdings, dass Elemente der christlichen Botschaft, die zentral, aber nicht mehrheitsfähig sind, in den Hintergrund treten, nicht nur in der Abtreibungs- und Euthanasiefrage, sondern auch wenn es um Ehe und Familie oder den Bereich der Bioethik geht. Die andere Tendenz besteht darin, gegen den gesellschaftlichen Mainstream Stellung zu beziehen, auf die Gefahr hin, gesellschaftlich allein auf weiter Flur zu stehen. Die Nebenwirkung dieser Therapie ist es, dass sich Menschen abwenden.

Angesichts dieser Situation muss der Weg der Kirche darin bestehen, den ganzen Anspruch des Glaubens in einer Art und Weise zu sagen und zu leben, dass er von den Menschen in unserer Gesellschaft wieder besser verstanden und angenommen werden kann. Die letzten Päpste haben diesbezüglich wichtige Impulse gegeben. Papst Franziskus hat mit seiner Namenswahl und den “Zeichen”, die er setzt, eine wichtige Anregung gegeben: Wir sind als Kirche in einer satten, lebenssatten, ja teilweise lebensüberdrüssigen Gesellschaft nicht glaubwürdig, wenn wir eine solche Gesellschaft imitieren oder ihr den Segen erteilen. Was Franziskus zu uns Bischöfen kürzlich beim Ad-Limina-Besuch gesagt hat, muss deshalb in unseren Diözesen Wirkung entfalten: “Wenn die Kirche vermeidet, von Einrichtungen abzuhängen, die durch wirtschaftliche Mittel einen Stil des Lebens auferlegen könnten, der wenig mit Christus, der arm wurde, kohärent ist, wird sie in ihren Strukturen das Evangelium besser sichtbar werden lassen”.

Ich denke aber auch an Papst Benedikt XVI., dessen grosses Bemühen es war, mit den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft und mit einer Sprache sowie mit Bildern, die der heutige Mensch versteht, die Botschaft des Evangeliums neu zu sagen. Dazu ein Beispiel: Bei einem Jugendtreffen im April 2006 wurde der inzwischen emeritierte Papst gefragt, wie man es schaffen könne, als Ehepaar ein Leben lang in Liebe und Treue zusammen zu bleiben. Auf diese heute wieder aktuelle Frage antwortete Benedikt XVI.: “Der Herr ‘implantiert’ uns in der Taufe durch den Glauben ein neues Herz. Das ist keine physische Transplantation. Aber vielleicht können wir uns gerade dieses Vergleichs bedienen: Nach der Transplantation muss der Körper behandelt werden, damit er mit dem neuen Herzen leben kann. (…). Umso mehr gilt das bei der ‘geistlichen Transplantation’, durch die der Herr ein neues Herz schenkt, das offen ist für den Schöpfer und für die göttliche Berufung. Um mit diesem neuen Herzen leben zu können, muss man die richtigen Medikamente anwenden, damit es wirklich ‘unser Herz’ wird. Indem wir in diesem Sinn in der Gemeinschaft mit Christus leben, mit seiner Kirche, wird das neue Herz wirklich ‘unser Herz’, und die Ehe wird möglich. Die ausschliessliche Liebe zwischen einem Mann und einer Frau, das vom Schöpfer geplante Leben zu zweit, wird möglich, auch wenn die Atmosphäre unserer Welt es so schwierig macht, dass es unmöglich zu sein scheint”.

Evangelisierung statt Selbstbewahrung

Ich denke, dass es im Sinn dieser Beispiele in Zukunft noch verstärkt unser Bemühen sein muss, am ganzen Evangelium und an der ganzen Lehre der Kirche, die es auslegt, festzuhalten und damit dann an die “Peripherien” zu gehen. Das bedeutet: Wir müssen noch mehr Anstrengungen unternehmen, diese Botschaft in einer Art und Weise zu den Menschen von heute zu bringen, die verstanden werden kann. Dieser Medizin bedarf es, damit das neue Herz, das alle Getauften erhalten haben, nicht wieder abgestossen wird. Dabei müssen wir uns bewusst machen, dass wir inzwischen aus einer Position der Minderheit heraus agieren, also missionarisch gesinnt sein müssen.

Worum es somit letztlich in den kommenden Jahren für die Kirche in unserem Land gehen wird, ist meiner Überzeugung nach das, was Papst Franziskus in “Evangelii Gaudium” (Nr. 27) prägnant so formuliert hat: “Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient”.

Verbunden mit diesen Gedanken wünsche ich Ihnen Gottes Segen im neuen Jahr

+ Vitus Huonder
Bischof von Chur