Von Martin Grichting, Generalvikar des Bistums Chur
Hunderte von Moslems, die in Köln und anderswo an Silvester über Frauen hergefallen sind; der so genannte „Islamische Staat“, der Mohammed wörtlich nimmt und Ungläubige versklavt oder tötet; Ausläufer dieser Koranauslegung in Frankreich, wo Redaktionsmitglieder der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ und Konzertbesucher zu den Opfern gehörten: Was diese Ausbrüche pervertierter Religion für Christen und Anhänger anderer Religionen bedeuten, ist derzeit unklar.
Eine Lesart ist diejenige von „Charlie Hebdo“. Zum Jahrestag des Anschlags auf die Redaktion hat das Magazin den (dreifaltigen) Gott auf das Titelblatt gehievt. Er ist blutverschmiert und trägt eine Kalaschnikow. Auch wenn viele das geschmacklos finden, ist doch die Überzeugung verbreitet, alle Religionen seien verbrecherisch. Am besten würde man sie liquidieren. Seit der Aufklärung brauche man keine Religion mehr, egal welche. Es ist deshalb gut möglich, dass auch Christen und Gläubige anderer Religionen Schaden nehmen durch die Gräueltaten, die im Namen des Islam vollbracht werden.
Eine andere Lesart ist die christliche: Es ginge darum zu verstehen, dass sich eine freie, die Menschenrechte achtende Gesellschaft nur dort entwickeln konnte, wo das Christentum den Boden bereitet hat. Denn es war Jesus Christus, der − anders als Mohammed − Gewaltlosigkeit sowie Feindesliebe predigte und keine Gewalt anwandte. Deshalb können sich Christen, die religiös motivierte Gewalt anwenden, nicht auf Jesus Christus berufen. Im Gegensatz dazu können moslemische Gewalttäter Mohammed als Vorbild anführen. Es gibt noch einen weiteren Unterschied. Christus hat gesagt: Gebt Gott, was Gott gehört, und dem Kaiser, was dem Kaiser gehört. Ein Staat, der säkular ist, also nicht religiöse Lehren zum für alle geltenden Gesetz erhebt, ist deshalb vom christlichen Glauben her möglich. Im Islam aber ist die Religion alles: Glaube und Gesetz für die staatliche sowie soziale Ordnung.
Man wird sehen, welcher Lesart die westlichen Gesellschaften folgen werden: Ob die Angriffe auf die freie Gesellschaft zu noch mehr Religionsfeindlichkeit führen. Oder ob es zu einer Rückbesinnung auf den christlichen Glauben als den Nährboden der freien Gesellschaft kommt. Für letzteres werden sich zweifellos Christen einsetzen. Diese Frage muss aber auch in der Zivilgesellschaft geklärt werden. Es ist an der Zeit, dass eine weit verbreitete Vulgär-Historiographie überwunden wird, die das Goldene Zeitalter erst mit der Aufklärung beginnen lässt. Die Aufklärung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern an den mittelalterlichen Universitäten vorbereitet worden. Mit den Instrumenten aristotelischer Philosophie wurde dort die jüdisch-christliche Lehre in ihrer Relevanz für die Würde jedes Menschen bedacht und zusehends erkannt. Dies zu verleugnen, behindert die immer noch ausstehende Versöhnung von Aufklärung und Christentum.
Die Faszination einer religiösen Lehre, wie sie der Islam für manche entchristlichte Europäer darstellt, oder etwa das allzu häufige Scheitern in Sucht und Depression zeigen, dass die von der Aufklärung errungenen Freiheiten allein nicht genügen. Sie sind „Freiheiten von“: von Unterdrückung und Bevormundung. So schaffen sie einen Freiraum für individuelle Entfaltung und Unternehmergeist. Der Mensch, der über seine Bestimmung nachzudenken vermag, benötigt aber auch „Freiheiten für“: Aussagen dazu, wofür er frei ist. Das sagt ihm die Religion. Weil diese Religion im Falle des Christentums mit der Aufklärung kompatibel ist, kann es mit dieser in einer Symbiose leben: Das Christentum ist die Wurzel der Aufklärung. Und diese ermöglicht ihm ein freies Gedeihen. Als aufgeklärter Christ kann man sich nur wünschen, dass die gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem Islam ein Katalysator ist, um dies besser verstehen zu können.
Dieser Text erschien am 25. Januar 2016 im Zürcher „Tagesanzeiger“, S. 11.