“Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf” (Jes 9,1). Diese Worte des Propheten Jesaja aus dem Alten Testament hören wir jedes Jahr wieder während der Feier der Heiligen Nacht von Weihnachten. Aber worin besteht dieses Licht, das über uns aufgestrahlt ist? Wie sollen wir diese Prophezeiung aus dem Alten Testament verstehen?
Vielleicht hilft uns gerade die schwierige Zeit, in der wir derzeit leben, das etwas besser zu verstehen. Wir sollen ja, wie Jesus gesagt hat, stets die Zeichen der Zeit deuten. Ein Zeichen der Zeit ist derzeit das Corona-Virus. Und durch das Virus ist unsere gegenwärtige Zeit geprägt von der Distanz. Wir sollen “social distancing” üben. Wir dürfen uns nicht zu nahekommen. Wir sollten uns so wenig wie möglich begegnen. Wer krank ist, muss in Isolation, oder zumindest in Quarantäne. “Bleiben Sie zu Hause”, rät uns der Staat. “Treffen Sie niemanden”, ist eine andere Aufforderung. Auch jetzt hier in der Kirche müssen wir Abstand halten. Wir sind zwar da, aber es dürfen nur wenige zur heiligen Messe kommen. Und wir müssen weit voneinander sitzen – ein ungewohntes Bild. Und schliesslich tragen wir Masken. Auch das schafft Distanz, weil wir den anderen nicht mehr richtig sehen, die Mimik nicht mehr erkennen.
Wir leiden mit allen Bewohnern unseres Landes, ja der ganzen Welt, unter dieser Situation. Viele haben wirtschaftliche Sorgen. Aber alle, auch die Kinder, die ihre Grosseltern nicht sehen dürfen, sind betroffen. Denn die Isolation macht uns zu schaffen. Und wir erkennen: Als Menschen und auch als Christen sind wir nicht für die Einsamkeit und Isolation geschaffen. Wir sind für die Gemeinschaft geschaffen. Auf Begegnung und Austausch, auf Gemeinschaft hin sind wir angelegt. Schon im Alten Bund wird ganz am Anfang der Heiligen Schrift darauf hingewiesen. Im Schöpfungsbericht heisst es: “Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm ebenbürtig ist” (Gen 2,18). Aber bald wird deutlich, dass diese Gemeinschaft als Mann und Frau nicht genügt. Auch die Gemeinschaft der Familie und des Volkes kann den Hunger des Menschen nach Gemeinschaft nicht stillen. So begegnet Gott schliesslich dem Menschen selbst. Er schenkt ihm zuerst geheimnisvoll seine Gemeinschaft, indem er Abraham begegnet und indem er die Propheten sendet, damit sie das Volk lehren.
Zuletzt aber kommt Gott selbst zu uns. Er wird Mensch in Jesus Christus. Er beruft die Apostel in seine Gemeinschaft. Daraus wird die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kirche. In ihr ist Gott uns nahe. In seinem Wort und in seinen Sakramenten schenkt er uns in ganz neuer Form seine Gemeinschaft. Ja, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, ist er mitten unter uns. Diese Gemeinschaft ist das Licht, das Gott dem Volk des Alten Testaments versprochen hatte. Diese Gemeinschaft ist das Licht, das in der Finsternis aufgehen sollte über denen, die im Land des Todesschattens, in Einsamkeit und Verlorenheit, wohnen. Denn der Mensch ohne Gott ist ein Mensch ohne Sinn. Er ist isoliert und sitzt im Dunkeln.
Diese Gemeinschaft, die Gott durch sein Kommen stiftet, feiern wir am heutigen Weihnachtsfest. Und wir feiern sie nicht nur heute, sondern in der ganzen Weihnachtszeit. Früher ging die Weihnachtszeit bis zum 2. Februar, dem Fest der Darstellung des Herrn. Dort begegnet Jesus als Kind dem greisen Simeon und Hannah, den Vertretern des Volkes Israel. So beginnt die Begegnung von Jesus mit seinem Volk. In der orthodoxen Kirche heisst dieses Fest Hypapante, also “Fest der Begegnung”. Und so können wir sagen: Das ganze Weihnachtsfest ist ein einziges Fest der Begegnung.
Aber das ist noch nicht alles. Es geht Gott nicht einfach darum, dass wir auf dieser Welt nicht einsam und isoliert sind, so wichtig das auch ist. Im heutigen Gabengebet wird nämlich von einem “wunderbaren Tausch” gesprochen. Und in der Präfation von Weihnachten (III) wird erklärt, was mit diesem “wunderbaren Tausch” gemeint ist. Es heisst in der Präfation: “Einen wundbaren Tausch hast du vollzogen: dein göttliches Wort wurde ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen empfangen in Christus dein göttliches Leben”.
Damit sind wir beim wahren Sinn des Wortes von Jesaja angekommen, dass das Volk, das im Dunkeln lebt, ein Licht sieht. Die Gemeinschaft, die Gott schenkt, ist seine ewige Gemeinschaft. Er kommt zu uns, er nimmt unsere menschliche Gestalt an, er betritt unsere Wege als Menschen auf dieser Welt, damit wir mit ihm eine ewige Gemeinschaft haben. Denn diese Gemeinschaft, die Gott uns schenkt, ist nicht einfach eine diesseitige, vergängliche Gemeinschaft. Sondern sie ist Gemeinschaft mit dem lebendigen und ewigen Gott. Sie besteht, als Jesus zu Gott zurückkehrt, weiter, für immer. Diese Gemeinschaft, die Gott uns in seinem Sohn schenkt, sprengt die Grenzen dieser Welt und Zeit.
Liebe Brüder und Schwestern. Wenn uns die Prüfung der Trennung und der Isolation, die wir derzeit ertragen müssen, besser verstehen lässt, dass wir zur Gemeinschaft untereinander, aber vor allem zur ewigen Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott berufen sind, dann war alles, was wir in diesen Monaten erleiden mussten, nicht umsonst. Pflegen wir deshalb in diesen Tagen, so gut es die Umstände zulassen, die menschliche und christliche Gemeinschaft. Begegnen wir uns auf den Kanälen, die möglich sein. Überlegen wir, wer in unserem Umfeld und Bekanntenkreis einsam ist und vergessen gegangen ist. Machen wir einen Schritt, und sei es nur durch einen Anruf oder ein Kärtchen.
Aber bedenken wir neu und tiefer vor allem dies: In dieser Nacht von Weihnachten kommt Licht ins Dunkel unserer menschlichen Existenz. Sie erhellt unseren Weg durch diese Zeit, indem uns der Weg gezeigt wird in Gottes ewige Gemeinschaft. Gehen wir deshalb auch in diesen schwierigen Zeiten mit der Hoffnung des Christen, der Christin voran. Und machen wir uns das Gebet zu eigen, das wir schon am Anfang der Heiligen Messe heute gebetet haben: “Herr, unser Gott, in dieser hochheiligen Nacht ist uns das wahre Licht aufgestrahlt. Lass uns dieses Geheimnis im Glauben erfassen und bewahren, bis wir im Himmel den unverhüllten Glanz deiner Herrlichkeit schauen”. Amen.
Predigt von Bischof Peter Bürcher in der Mitternachtsmesse vom 24. Dezember 2020 in der Kathedrale Chur
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