Allerheiligen - Gott ist nicht von dieser Welt
Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder
Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Heiligkeit möchte zum Ausdruck bringen, dass Gott nicht von dieser Welt ist. Heiligkeit bedeutet, dass Gott getrennt von all unseren Vorstellungen von ihm ist. Heiligkeit heisst also, dass Gott anders als all unsere Bilder und Konzepte ist. Wenn wir Gott als «heilig» bezeichnen, dann sagen wir damit in jüdischer Übersetzung und Tradition, dass er «kadosch» ist, Gott der Heilige ist Gott der ganz andere.
Dieser Gott, der als Gott sozusagen nichts mit uns zu tun hatte, wollte unbegreiflicherweise alles mit uns zu tun haben. Der ganz andere ist uns ganz nahe, ganz uns gleich ausser der Sünde geworden. Wozu? Um uns ihm ganz gleich zu machen. Er will – darf ich es so sagen – uns mit seiner Heiligkeit anstecken. Am heutigen Hochfest Allerheiligen würde ich am liebsten laut rufen: Die Heiligkeit Gottes besteht darin, alle heilig zu machen! Er will seine Heiligkeit nicht für sich selbst, er will nicht der ganz andere bleiben, sondern dass wir das werden, was er ist. Das feiern wir heute. Die Heiligen sind jene Menschen, die das Wirken Gottes an uns Menschen nicht verhindert haben. Das Einzige, was Gott nämlich hartnäckig wirken will, ist, die Menschen so zu heiligen, wie er heilig ist.
Wenn wir das heutige Evangelium betrachten, das Evangelium der Seligpreisungen, erfahren wir dies in höchster Konzentration. Jesus bringt eine Reihe von Haltungen und Einstellungen zur Sprache, die uns selig machen können, die er selber, wie sonst niemand, gelebt und verwirklicht hat.
Jesus Christus ist für uns total arm geworden, geboren in einer Futterkrippe, am Kreuz gestorben ohne nichts mehr zu besitzen, damit wir, die wir arm sind, selig werden können. Durch seine seligmachende Armut hat er den Weg geebnet, damit wir selig werden können. Jesus hat getrauert. Er hat mit der armen Witwe, deren Sohn gestorben war, mitgetrauert, sich ihr Leid zutiefst zu eigen gemacht. Wir können getröstete Selige werden, weil er die Traurigkeit der Welt auf sich nahm, als Quelle der Seligkeit. Unser Erlöser war sanftmütig und nur durch Sanftmut konnte er die ganze Welt erben. Durch seine Sanftmut hat er uns den Weg gezeigt, damit wir als Sanftmütige selig werden können. Der Heiland hat nie einen Kompromiss mit der Ungerechtigkeit geschlossen. Sein «mich dürstet» am Kreuz ist zuletzt Ausdruck seines ungebrochenen Willens, Gerechtigkeit auf die Erde zu bringen. So spornt er uns an, durch unseren Einsatz für Gerechtigkeit selig zu werden. Wie sein göttlicher Vater ist Christus nicht nur barmherzig, sondern die Barmherzigkeit selbst. Nur in dieser Schule der Barmherzigkeit, ja indem wir allen gegenüber barmherzig sind, können wir nach und nach der Seligkeit näherkommen. Das Herz des Herrn war immer rein, was nichts anderes heisst, als sein Herz war nie selbstbezogen. Sein Herz war immer restlos für die anderen da, für alle, das ist die Reinheit des Herzens. Auch nur eine Spur von Selbstbezogenheit hindert uns, Gott zu schauen. Wenn unser Herz mit dem Herzen des Erlösers schlägt, wird es einmal möglich sein, die Seligkeit der Gottesschau zu geniessen. Jesus ist der Friede selbst - mit den Worten von Bruder Klaus - denn Gott ist der Friede. Er wird nie aufhören, Friedenstifter der Menschheitsgeschichte zu sein und wir werden in der Nachfolge Jesu, als Kinder im einzigen wahren Kind Gottes, selige Kinder Gottes genannt werden, die auch nie aufhören wollen, Frieden zu stiften. Derjenige, der um der Gerechtigkeit Willen am meisten verfolgt, geschmäht und zutiefst verleumdet wurde, der ist Christus. So konnte er die selige Freude und der unendliche Jubel des Himmels erleben. Ich sage es nochmals: Dieser Jubel und diese Freude erlebte der Herr nicht für sich, sondern als Weg, Wahrheit und Leben, damit alle, die ähnliches erleiden, sich schliesslich für immer freuen und jubeln können. Christus ist die Fülle der Seligkeit, diese Fülle interessiert ihn jedoch nicht, sondern es interessiert ihn nur, dass wir diese Fülle erreichen können, nämlich dass unser Lohn im Himmel gross wird.
Wir hörten aus dem 1. Johannesbrief, dass wir uns heiligen können und heilig werden, so wie er – das heisst wie Jesus, der Sohn Gottes – heilig ist. Über dies müssen wir immer nachdenken. Er ist heilig, weil er als einziges vorhat, uns heilig zu machen, uns mit seiner Heiligkeit anzustecken. Man kann nur heilig werden, wenn man nicht mit der eigenen Heiligkeit beschäftigt ist. Man kann nur heilig werden im Dienste der Heiligkeit der anderen.
Unsere himmlische Mutter Maria ist Königin aller Heiligen, weil sie immer die demütige Magd bleiben will, die Freude hat, dass alle ihre Menschenkinder heilig werden, wie ihr göttlicher Sohn heilig ist. Amen
Chur, 1. November 2025
Joseph Maria Bonnemain
Bischof von Chur