"Gib, dass wir die Fülle des Lebens und der Liebe empfangen"
Liebe Mitbrüder,
liebe Schwestern und Brüder
«Gib, dass wir aus diesem Geheimnis die Fülle des Lebens und der Liebe empfangen» haben wir vorher gebetet.
Gerne möchte ich heute Abend vertiefen, warum wir aus dem Geheimnis der Eucharistie die Fülle des Lebens empfangen, warum wir aus dem Geheimnis der Eucharistie die Fülle der Liebe empfangen.
Die Eucharistie wirkt wie eine Impfung gegen jegliche Bakterien und Viren, Gifte und Angriffe, welche unsere Lebensverbundenheit mit Gott gefährden könnten. Die Eucharistie ist Stärkungsmittel, um die Schwachheit unserer Beziehung zu Gott zu beheben; die beste Nahrung für unser Wachstum in Christus. Die Hl. Kommunion ist das stärkste Antidot gegen den erstickenden Individualismus, gegen die lähmende Selbstbeschäftigung, gegen die giftigen Allüren der Selbstgenügsamkeit. Die hl. Eucharistie verwirklicht in uns nach und nach die mystische Bitte von Bruder Klaus:
Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich fördert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen Dir.
Dieses ganz zu eigen werden mit Gott, geschieht nirgends besser als durch den Empfang der Eucharistie. Der für uns gebrochene Leib des Herrn und das für uns vergossene Blut Christi verwandeln unser Leben in sein Leben. Wenn wir in der Eucharistiefeier die Worte Jesu hören, welche der Apostel Paulus uns überliefert hat: «Das ist mein Leib für euch», «dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut», sollten wir uns in tiefer Ergriffenheit bewusstwerden, dass der Bund des Lebens, dass der Lebensbund mit Gott ernährt, gestärkt und vertieft wird. Die hl. Hostie ist Nahrung für unsere Treue zu Gott. Die hl. Hostie ist Gegengift gegen Zweifel im Glauben, gegen Entmutigung, und gegen die Schwächung der Hoffnung. Wie Jesus sagte: ER kommt zu uns, damit wir «das Leben haben und es in Fülle haben» (Joh 10,10).
Wir haben gehört, was das Blut der geschlachteten Lämmer bei den Häusern der Israeliten bewirkte: «Man nehme etwas von dem Blut und bestreiche damit die beiden Türpfosten und den Türsturz an den Häusern, in denen man es essen will. (…) Das Blut an den Häusern, in denen ihr wohnt, soll für euch ein Zeichen sein. Wenn ich das Blut sehe, werde ich an euch vorübergehen und das vernichtende Unheil wird euch nicht treffen…». Wenn Gott das Blut Christi in unserem Innern sieht, übersieht er – noch mehr – beseitigt er alles in uns, was uns von ihm trennen würde, er sieht nur Jesus in uns und er sieht keine Sünde, keine Untreue, keinen Egoismus, keinen Hochmut mehr in uns.
Wir kennen alle bestimmt gut die Rede des Herrn über die Eucharistie, die wir im Johannes Evangelium finden: «Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.» (Joh 6,51). Als Jesus das sagte, nahmen viele Anstoss an ihm und sie hörten auf, ihm nachzufolgen. Sicher reagieren wir nicht so, und dennoch ist heute Abend der richtige Augenblick, um uns zu fragen, ob wir wirklich davon überzeugt sind, dass die Eucharistie uns die «Fülle des Lebens» schenkt.
Es kommen mir zwei Dinge in den Sinn. Zuerst eine Aussage von der hl. sudanesischen Sklavin Guiseppina Bakhita. Sie sagte: Wenn ich einmal sterbe und in den Himmel komme, werde ich mit zwei Koffern erscheinen. In einem Koffer werde ich meine ganze Armseligkeit tragen. Der andere Koffer wird voll von den Verdiensten Jesu sein. Ich werde auf den Koffer mit meinen Miseren sitzen bleiben, den anderen Koffer mit den unendlichen Verdiensten Christi öffnen und Petrus sagen: Lass mich hinein. Wenn wir kommunizieren, können wir ungeniert unsere Fehler beiseitelassen, für immer durch die Barmherzigkeit Christi begraben und eins werden mit der Fülle der Liebe und des Lebens, die er ist.
Die Feststellung vom Heiligen Vater in seinem Schreiben Evangelii gaudium fasst sehr gut zusammen, was wir bis anhin betrachtet haben: «Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein grosszügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen. Diese Überzeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.» Im Herrn Geliebte die Eucharistie kann durch ihren bewussten, ehrfürchtigen Empfang unser oft mühevolles Leben in ein Leben in Fülle verwandeln.
Kommen wir nun zu der zweiten Wirkung der Eucharistie, welche im heutigen Tagesgebet hervorgehoben wird: Durch das Geheimnis der Eucharistie empfangen wir die Fülle der Liebe.
Wir kennen gut die Worte des Herrn: «Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe!» (Mt 5,23-24). Wir könnten noch ergänzen: Und wenn du in die Messe kommst und denkst, dass dein Bruder hungert, geh zuerst zu ihm und gib ihm zu essen. Und wenn dir dabei einfällt, dass deine Schwester in einen Streit verwickelt ist, geh dorthin und versuch Frieden zu stiften. Wenn du an der Eucharistiefeier teilnimmst und dich daran erinnerst, dass ein anderer Mensch Ungerechtigkeit erfährt, geh zu ihm und setze dich an seiner Seite für Gerechtigkeit ein. Wahrscheinlich denken wir hier alle: ja, dann würden wir nie in der Kirche bleiben können. Nein, so ist es nicht gemeint. Nur durch die Eucharistie, durch die Verbundenheit mit dem Herrn, in IHM und durch IHN und mit IHM werden wir nicht ermatten, Kraft haben, ernährt von der Fülle der Liebe, um uns beharrlich für die Hungrigen, Verfolgten, Flüchtenden, ungerecht Behandelten, Zerstrittenen und Einsamen einsetzen. Nur durch den Empfang der Fülle der Liebe werden wir an einer versöhnten, friedvollen, gerechten und geschwisterlichen Welt mit bauen können. Amen.
Chur, 17. April 2025
Joseph Maria Bonnemain
Bischof von Chur