Homilie von Bischof Josef Maria Bonnemain zum Weihnachtsgottesdienst in Alvaneu
Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder
Jedes Jahr werden wir von Neuem ergriffen, wenn wir die Erzählung der Geburt Jesu in Bethlehem hören. Ich denke, dass unsere Ergriffenheit heute Abend hier ganz besonders ist.
Die Engel erklärten den Hirten, dass sie sich nicht fürchten sollten, denn sie verkündeten ihnen eine grosse Freude. Der Beweis, das Zeichen für diese Befreiung aus der Angst und für die Freude war ein armseliges Kind in Windeln, in einer Futterkrippe. Man könnte sich fragen: Ist dieses Zeichen glaubwürdig? Reicht es aus, um Zuversicht und Freude zu spüren, ja, und nicht mehr zu bangen?
Vorher haben wir schon vom Propheten Jesaja gehört, dass das Volk, das in der Finsternis ging, ein helles Licht sah und dass über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, ein Licht aufstrahlte. Sind diese Worte nicht fast wie ein Bild, ein Sinnbild für die gegenwärtige Lage der Menschen von Brienz? Liebe Schwestern und Brüder, ich weiss, ich kann spüren, dass Sie sich fragen: Wo ist für uns das Licht, woher kommt das Licht? Momentan tappen wir bloss im Dunkel. Umso mehr brauchen Sie, brauchen wir alle die Weihnachtsbotschaft zu beherzigen. Mit dem hl. Paulus in seinem Brief an Titus sage ich Ihnen: »Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten». Diese Gnade und dieser Beistand sind erschienen in der Gestalt der Ohnmacht und der Armseligkeit eines Neugeborenen. Dies gerade damit wir, wenn auch wir uns ohnmächtig, hilflos und armselig fühlen, wissen können, dass er, der grosse Gott, all das angenommen hat, all diese schmerzlichen Situationen mit uns teilt und uns nicht im Stich lassen will.
Im Herrn Geliebte, Maria war hochschwanger. Sie und Josef hatten ganz andere Pläne. Die Ereignisse aber haben all ihr Pläne durchkreuzt. Maria musste ihren Sohn unter prekären Umständen zur Welt bringen. Wie jede Mutter hätte auch sie gerngehabt, wenn die Geburt im eigenen Haus, in Geborgenheit hätte stattfinden können. Es geschah aber in der Fremde und in der Fremde gab es keinen anständigen Platz für sie. Später mussten sie sogar unter existentiellen Bedrohungen ins Exil fliehen, ohne zu wissen ob sie je zurückkommen würden. Zugleich aber rechneten sie mit der Nähe der verborgenen Gottheit, bzw. hatten sie die ganze Gottheit verborgen im kleinen Jesuskind in ihrer Nähe. Sie sahen davon nicht viel, sie fühlten davon nicht viel und dennoch war die ganze Herzenswärme Gottes für sie da. Das unermessliche Versprechen Gottes zu uns Menschen lag gewickelt in Windeln in einer Krippe. Heute Nacht ist dies weiterhin höchst aktuell. Die ganze Liebe Gottes zu uns und für uns liegt verborgen in der Unauffälligkeit dieser Eucharistiefeier.
Liebe Schwestern und Brüder, der gewagteste Schritt der Liebe Gottes zu uns besteht nicht darin, dass er alles Schmerzliche in dieser Welt weggefegt hat, sondern dass er eine Schicksalsgemeinschaft mit uns für immer eingegangen ist. Er hat alle Umstände unseres Lebens angenommen. Er will besonders gegenwärtig sein, wo unser Leben sehr schwierig, leidvoll ist bzw. wo es unter schweren Prüfungen steht.
Jesus in der Krippe war so klein und zugänglich, dass die Hirten eben von den Engeln hörten, dass sie keine Angst haben sollten. Und der kleine Jesus lag so barrierefrei da, dass auch die Mächtigen – die sogenannten drei Könige – Zugang zu ihm fanden. Weihnachten ist eine radikale Botschaft der Solidarität, der Gemeinschaft, des Familiensinns und der Geschwisterlichkeit. Wenn wir als Christinnen und Christen, wenn wir als Bürgerinnen und Bürger, wenn wir als Nachbarn im Bewusstsein der Nähe Gottes zusammenhalten, uns gegenseitig unterstützen und helfen, für die anderen da sind, leuchtet das Licht und die Freude von Weihnachten auf. Es geschieht nicht sofort, es beginnt klein, aber es wächst und gedeiht und gibt eine Beständigkeit, die vorher nicht so vorhanden war. Wenn wir unter sehr schmerzlichen und bedürftigen Umständen eins bleiben und zusammenhalten, werden wir nach und nach Erfahrene der Gottesliebe und der Menschenliebe, Meister der Solidarität sein und wir werden vielen anderen helfen können, die sich in ähnlichen Zuständen befinden.
Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen zuletzt noch etwas erzähle, das ich vor manchen Jahren erlebte: Ich hatte tagelang an einer Predigt gefeilt, die ich in einer Heiligen Nacht wie heute halten sollte. Lange hatte ich versucht meine Gedanken zu kombinieren und rang mit den richtigen Bildern und Sätzen. Die Predigt war schliesslich fertig und ich fuhr mit dem Auto zur Kirche, wo ich predigen sollte. Ich hörte dabei Radio. Es kam ein italienisches Lied. Der Refrain des Liedes lautete: «Per ogni lacrima nasce una stella”, das heisst: Für jede vergossene Träne, wird ein Stern geboren». Wissen Sie, ich liess meine Predigt beiseite und sagte nur, das Lied ergänzend: «Und für alle Tränen der Menschheit ist uns Christus geboren».
Liebe Brienzerinnen und Brienzer, für alle Ihre Tränen ist heute ganz besonders Jesus für Sie geboren. Amen
Alvaneu, 24. Dezember 2024
Joseph Maria Bonnemain,
Bischof von Chur