Karfreitag - Bischof Joseph Maria predigt zu Jesajas Lied
Liebe Mitbrüder,
liebe Schwestern und Brüder
Der Prophet Jesaja hat in seinem Lied vom Gottesknecht – das wir vorher gehört haben – einige Jahrhunderte im Voraus die Passion, das Leiden unseres Herrn präzis und detailliert geschildert. Insbesondere kommt dort sehr klar zum Ausdruck, was der Beweggrund, die Motivation des Leidens unseres Erlösers war und welche Auswirkung diese hat.
Jesaja schrieb: «Wir hatten uns alle verirrt, wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg.» Die Sackgassen der Weltgeschichte haben alle diese Ursache. Die Tragödie beginnt immer, wenn jeder nur an sich selbst denkt, den eignen Weg geht und sich nicht um die anderen kümmert. Sagen wir nicht manchmal: Rette sich, wer kann, eben: jeder für sich! Wenn jeder versucht, sich selber zu retten, nicht aber an die anderen denkt, wird niemand gerettet. Wenn jeder nur an den eigenen Vorteil denkt, hat niemand einen Vorteil. Wenn jeder denkt, dass nur die anderen schuldig sind, bleiben alle schuldig. Jesaja fährt dann fort: «Doch der Herr liess auf ihn treffen die Schuld von uns allen.» Im Herrn Geliebte, das ist die absolute Wende, die Befreiung aus der Selbstgenügsamkeit. Jesus hat durch seine Bereitschaft, an die ganze Menschheit zu denken, die ganze Menschheit aus der Sackgasse in die Freiheit herausgeführt.
Gehen wir nun zum Leiden des Herrn, das wir aus dem Johannes-Evangelium gehört haben. «Jesus, der alles wusste, was mit ihm geschehen sollte, ging hinaus und fragte sie: wen sucht ihr? Sie antworteten ihm: Jesus von Nazaret.» (Diese Frage und Antwort kommt 2x vor). Jesus bekräftigte dann: «Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Wenn ihr also mich sucht, dann lasst diese gehen!»
Der Einzige absolut Unschuldige der Menschheitsgeschichte sucht nicht, sich zu retten. Er sagt nicht: Ich bin unschuldig. Er wälzt die Schuld nicht auf die anderen, sondern er übernimmt alles für uns, setzt sich ein, damit die anderen frei werden. Wollen wir den Beweggrund, den Ursprung, die Motivation der Passion noch klarer haben? Es geht um die Bereitschaft Gottes, die Schuld, die Ohnmacht, die Wunden der ganzen Menschheit auf sich zu nehmen und all diese Wunden so zu heilen.
Christus ist bereit, die Last des Kreuzes auf sich zu nehmen, um die zu retten, die es verdienen und die zu retten, die es nicht verdienen. Er ist bereit, Rettung zu sein selbst für jene, die ihn zugrunde richten. Es ist die absolute Bereitschaft der Liebe, stellvertretend für alle und für alles, was nicht Liebe ist, Heil zu werden.
Ist es nicht so, dass wir manchmal denken, das geht mich nichts an, warum muss ich mich anstrengen? Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Jeder muss Verantwortung für seine eigenen Fehler übernehmen. Leider gehen wir manchmal noch weiter: Wenn jemand mich verletzt, verwundet, mich angreift, bin ich berechtigt, auch ihm Wunden zu schlagen? Diese Spirale der Gewalt, der Rache, der Aufrüstung, des Kalten Krieges ist vielerorts vorhanden, bringt aber nie die wahre Lösung. Viele Länder denken gegenwärtig, dass sie auch das Recht haben, Atombomben zu besitzen, um sich so behaupten zu können, wenn Feinde mit Atombomben über sie herfallen. Ein solches Szenario würde die ganze Welt zerstören.
Vor einigen Tagen hat mir jemand auf Facebook diese Botschaft geschickt: «Sehr geehrter Herr Bischof, was denken Sie über die zahlreichen Krisen und Sorgen, denen wir als Menschen und Gläubige seit geraumer Zeit ausgesetzt sind. Wie können wir das seelisch noch verarbeiten?» Ich habe dieser Person geschrieben: «Als Pilger der Hoffnung. Hoffnung heisst zuversichtlich bleiben, obwohl es viele Gründe gibt, um aufzugeben. Und der unverrückbare Grund ist: Gott wird niemals aufhören, uns bedingungslos zu lieben.» Dies hat diesen Mann nicht zufriedengestellt und er konterte: «Manchmal bleibt Verzweiflung übrig, wenn ich daran denke, dass heute in der Ukraine Menschen und Häuser bombardiert werden, ohne eigene Schuld. Wo ist da Gott, der uns angeblich „bedingungslos“ liebt. Wo bleibt da Gerechtigkeit, wenn heute am Palmsonntag wieder russische Raketenschläge auf das Stadtzentrum von Sumy (Ukraine) niederprasseln? Mehr als 30 Tote und über 80 Verletzte sind die Folge dieses furchtbaren Angriffs.»
Liebe Schwestern und Brüder, ich muss es gestehen: Darauf zu antworten ist alles andere als einfach. Es bleibt ein Geheimnis, es ist das Geheimnis von Karfreitag: «Mein Knecht, der gerechte, macht die Vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich (…) Er hob die Sünden der Vielen auf und trat für die Abtrünnigen ein.»
Wie können wir die Lage der Welt retten? Was kann ich diesem Mann noch antworten? Bis heute habe ich es noch nicht getan. Meine Predigt ist irgendwie die Antwort. Müssen wir alle Pazifisten werden? Nein. Pazifismus allein rettet die Welt auch nicht. Aber wir werden die Welt auch nicht retten, wenn wir Gewalt mit Gewalt bekämpfen, wenn wir auf Ungerechtigkeit mit Ungerechtigkeit antworten; wenn wir auf Lieblosigkeiten und Aggressionen mit Aggressivität und Lieblosigkeit reagieren, dadurch gibt es nur noch mehr Wunden und noch mehr Verwundete. Nur Jesus zeigt uns den Ausweg. Seine Reaktion war nicht bloss Nichtreagieren, sondern mit aktiver, uneingeschränkter, unbedingter Liebe alle Lieblosigkeiten und Grausamkeiten anzunehmen, ohne aufzuhören, zu lieben. Nur in einem Übermass an Liebe, nur in der Fülle der Liebe werden wir das Böse ertränken können. Der Gottesknecht, das Lamm Gottes, unser Heiland lehrt uns mit seinem Beispiel, dass die Liebe – und nur sie – alle Grausamkeiten überwinden kann.
Am Kreuz sagte Jesus zu seiner Mutter: «Frau, siehe dein Sohn!» Auch heute sieht Jesus Christus alles, was in der Welt schiefläuft und sagt: Maria, Frau, siehe deine Kinder! Siehe die Schuldigen, ich liebe sie, ich liebe sie weiterhin bis zur Vollendung. Liebe du sie auch! Und Maria tut es und wird es tun bis zum Ende der Welt – wie ihr göttlicher Sohn.
Versuchen wir – bitten wir heute um diese Gnade – so gütig gegenüber allen, die an uns schuldig geworden sind, zu reagieren und zu handeln wie Maria, so werden wir erahnen können, dass unsere Welt besser geworden ist. Amen.
Chur, 18. April 2025
Joseph Maria Bonnemain
Bischof von Chur