Maria Aufnahme in den Himmel
Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder
Wir haben in der ersten Lesung des heutigen Hochfestes die Beschreibung der Gegenwart Marias im himmlischen Reich gehört:
«Dann erschien ein grosses Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füssen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt.»
Auch das heutige Tagesgebet – wie wir hörten – spricht von der Erhöhung Marias in den Himmel mit Leib und Seele.
Nun würde ich Sie alle am liebsten hinauf in den Hochchor der Kathedrale mitnehmen, eine Leiter holen und Sie hinaufsteigen lassen, damit Sie die Spitze des Hochaltars betrachten könnten.
Unser Domkapitel hat im Marianischen Jahr 1987/88 das sogenannte Churer Marienbuch herausgegeben. In diesem Buch sind die vielen Darstellungen der Muttergottes in der Kathedrale abgebildet, zusammen mit Betrachtungen von der berühmten Schriftstellerin und Benediktinerin aus dem Kloster Fahr, Silja Walter. Im oberen Teil des Altares befindet sich die Darstellung der Krönung Mariens durch die Dreifaltigkeit. Und noch eine Stufe höher, ganz an der Spitze, ist in der Mitte die Dreifaltigkeit nochmals dargestellt und Maria kniet anbetend links davon. Silja Walter schreibt dazu betrachtend:
«‘Ora pro nobis’ Gestalt geworden hoch über dem Thron und der Krone der eigenen Hoheit. Da trat sie heraus, aus dem Herrlichkeitsraum ihrer Krönung. Kronenlos kniet sie sich hin, kleine Magd, Mädchen, Mutter, Maria, Fürbitterin. Unter dem Saum ihres Tuches ein Gesicht, ein Mund, Augen und Hände, die uns hineintragen in Gottes Erbarmen.»
Schon beim Magnificat, das wir im heutigen Evangelium hörten, sagte Maria, dass ihre Seele die Grösse Gottes preist. Sie liess sich in den Himmel aufnehmen, nicht um selber verherrlicht zu werden, sondern befreit von sich selbst, von allen Kronen und Würden, absolut frei von Selbstbeschäftigung nur noch in Anbetung Gottes und für uns fürbittend für die ganze Ewigkeit auszuharren. Ihre Gegenwart im Himmel ist jedoch für uns viel mehr als eine Quelle der Fürbitte, sondern ein Ansporn, damit unser Leben in der Nachfolge Christi wirklich gelingen kann. Wir finden nämlich die Ehre, das Glück, die Freude und den Frieden nicht, wenn wir dies für uns suchen, für uns haben wollen, sondern erst wenn wir Gott in unserem Leben den richtigen Platz geben, das heisst, wenn wir ihn in die Mitte unseres Lebens stellen und erst wenn wir unser Leben in den Dienst der Mitmenschen stellen.
Wir sind gewohnt, Maria auch knieend, mütterlich, demütig an der Krippe des Jesuskindes zu sehen. Schon damals, bei der Geburt Jesu, suchte Maria nicht die eigene Ehre, sondern betrachtete und betete den menschgewordenen Gott an. Das machte sie ihr Leben lang und das macht sie nun für uns im Himmel. Wenn Maria den Gottmensch Jesus Christus, Erlöser der Menschheit, Heiland aller Menschen betrachtet und anbetet, tut sie dies in zweifacher Hinsicht:
Die Mutter Gottes betrachtet das neugeborene, unscheinbare, schutzbedürftige Jesuskind und entdeckt anbetend, das Göttliche in ihm. Gleichzeitig entdeckt und bewundert sie, dass das Göttliche nun unsere menschliche Gestalt angenommen hat. Sie versteht und lobpreist, dass nun der Mensch, alles Menschliche göttlich geworden ist.
Als sie ihren göttlichen Sohn am Kreuz leidend und sterbend betrachtete, bejahte und glaubte sie fest, dass dort Gott für die Menschheit starb. Sie betrachtete und bejahte auch liebevoll, dass nun das Leiden der ganzen Menschheitsgeschichte gleichsam daran war, in die Gottessohnschaft aufgenommen zu werden.
Und nun – im Himmel – kann sie von Angesicht zu Angesicht die verherrlichte Menschheit Jesu anbeten, ja den göttlichen Sohn, und zugleich bestaunt sie für die ganze Ewigkeit, dass all das Menschliche so sehr innigst mit Gott verbunden ist und bleibt.
Im Herrn Geliebte, was wir heute feiern ist auch, dass wir im Himmel eine Mutter haben, die nicht nur ununterbrochen für uns Fürbitte hält, sondern uns anbetend bewundert. Sie entdeckt in uns immer den eigenen Sohn, das Göttliche in uns, das Gute, das Positive, das Ausstrahlende, das Kostbare, das Ebenbild Gottes im Menschen. Wie sehr sollte uns diese Wirklichkeit bewegen!
Sie gibt uns auch ein Beispiel. Wenn wir heute diese geheimnisvolle Realität betrachten, fühlen wir uns angespornt, die Grösse, das Göttliche, das Positive, das Schöne und Edle in jedem Menschen zu entdecken und ja –, ich sage es so – knieend anzubeten?
Wenn wir nicht imstande sind, die göttliche Gegenwart in jedem Menschen zu entdecken, können wir nicht sagen, dass wir Gott verherrlichen und dass er Mittelpunkt unserer Existenz ist. Mit Maria als guter Lehrerin werden wir diese Wissenschaft der Demut und zugleich Wissenschaft der echten Grösse immer besser lernen und immer mehr beherrschen. Amen.
Chur, 15. August 2025
Joseph Maria Bonnemain
Bischof von Chur