Mitternachtsmesse am Heiligen Abend mit Bischof Joseph Maria Bonnemain

Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder
Mitten in ihrer Nachtwache wurden die Hirten mit himmlischem Licht, mit der Herrlichkeit des Herrn umstrahlt. Dieses Licht lag als neugeborenes Kind in Windeln gewickelt in einer Futterkrippe für Tiere. Das hatte der Prophet Jesaja bereits angekündigt. «Das Volk, das in Finsternis ging», sagte er, «sah ein helles Licht». Im dreckigen Dunkel des Futtertroges erstrahlte ein reines und heilbringendes Licht. Weiter sagte Jesaja: «Denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf». Die Krippe stellte sozusagen die ganze Last der Sündhaftigkeit der Menschheitsgeschichte dar und gerade dort wurde die ganze Last weggenommen. Die Last verwandelte sich in die Leichtigkeit des Lichtes, in die Freude einer grundsätzlichen Befreiung.
Diese weihnachtliche Verwandlung ist das dauernde Weihnachten der Menschheit. Sie hört nie auf, sie setzt sich immerfort, sie geschieht im Heute. Viele Strassen unserer Welt sind dunkel geworden. In manchen Häusern ist kaum ein Hoffnungsstrahl vorhanden. Viele Herzen leiden unter der schweren Last von Todesschatten. Uns allen ist die Lage bewusst: Armut, Obdachlosigkeit, Einsamkeit, Verbannung, viele gebrochene und verwundete Herzen, Kriege, Gier, Machtgelüste, Korruption, Profitdenken. Gerade da, in dieser Situation, schenkt sich Gott uns in seinem Sohn. Mitten im Gestank von all dem, in der Dunkelheit strahlt das Licht des Neugeborenen. Es sucht nicht für sein stets in der Welt geboren werden, das Gediegene, das Komfortable, das Harmonische, das Lichtvolle, Orte, wo Freude und Glück bereits herrschen. Nein, Weihnachten ist immer das Ereignis von Licht im Dunkel, von Leben mitten in der Verwesung, von Zukunftshoffnung inmitten von Perspektivenlosigkeit.
Im Herrn Geliebte, Gott wird für uns Mensch, nicht bloss für einen kurzen Besuch, für einen höflichen Aufenthalt. Er treibt mit uns nicht bloss Wohltätigkeit und soziale Arbeit. Er wird endgültig eins mit uns, mit all dem, was uns dunkel stimmt und schwer belastet. Tag für Tag will er, dass es Weihnachten wird.
Vor drei Wochen verbrachte ich einige Stunden im Stadtpark von Chur bei den Drogenabhängigen. Am letzten Sonntag war ich mehrere Stunden bei den Obdachlosen, Prostituierten, Flüchtlingen, Armen der Gassenarbeit in der Langstrasse in Zürich. Heute Abend war ich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Brienz, um Weihnachten mit ihnen zu feiern. An diesen Orten geschieht besonders Weihnachten. Jesus bevorzugt auch heute solche Orte, um in die Welt zu kommen. Dort finden wir ihn besonders. Es geht um alle Engpässe der Welt, dort will er Tag für Tag geboren werden: Licht im Dunkel, Befreiung aus schweren Lasten.
In einer solchen Nacht wie heute sollten wir uns von dieser Liebesverrücktheit Gottes anstecken lassen, seine Art nachzuahmen versuchen. Unser Jesuskind wir sehr gerne hören, wenn jeder von uns in seinem Herzen sagt: Jesus, ich möchte ein Stück Weihnachten für unsere Welt sein. Ich bin bereit, aus meiner Komfortzone auszusteigen und Licht an die Ränder der Gesellschaft zu bringen. Wenn wir mit ihm so sprechen, wird er uns helfen, damit wir in unserem gewohnten Alltag, in unserer vertrauten Umgebung, in den Herzen unserer Mitmenschen die Abgründe, die Trostlosigkeit, die schweren Lasten, die dunkelmachende Sorge entdecken und mit seiner Gnade gerade dorthin Nähe, Licht, Wärme, Zuneigung, Unterstützung und Liebe bringen. Seien wir Weihnachten für die Welt.
Chur, 24. Dezember 2024
Joseph Maria Bonnemain
Bischof von Chur