Bischof Vitus Huonder hat Generalvikar Dr. Martin Grichting beauftragt, zuhanden aller Priester, Diakone sowie seelsorglichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diözese Chur eine Hinführung und Lesehilfe zum Nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Amoris laetitia“ von Papst Franziskus zu verfassen.
Pastorale Unterscheidung in der Wahrheit Christi
Zum Nachsynodalen Apostolischen Schreiben «Amoris laetitia» von Papst Franziskus
Martin Grichting
Bereits gut fünf Monate nach Abschluss der zweiten Etappe der Bischofssynode 2014/2015 hat Papst Franziskus ein umfangreiches Nachsynodales Apostolisches Schreiben veröffentlicht. Mit «Amoris laetitia» (Die Freude der Liebe) schliesst er sich den Päpsten seit Pius XI. an, die in Ehe und Familie eine besondere Herausforderung für das Lehr- und Hirtenamt der Bischöfe von Rom gesehen haben. Das jüngste Hirtenschreiben will jedoch − anders als «Casti connubii» Pius XI., «Humane Vitae» Pauls VI. oder «Familiaris Consortio» Johannes Pauls II. − weniger eine lehrmässige Vertiefung bieten. Vielmehr soll es einen neuen Aufbruch der Ehe- und Familienpastoral anstossen.
Franziskus bewegt sich in seinem Schreiben entlang dem Schlussdokument der Bischofssynode vom Oktober 2015 («Relatio Synodi»), das ausführlich zitiert wird. Gleich vorweg betont er: «Selbstverständlich ist in der Kirche eine Einheit der Lehre und der Praxis notwendig» (3). Deshalb kann es nicht überraschen, dass Franziskus nichts von dem zurücknimmt, was seine Vorgänger gelehrt haben. Vielmehr setzt er die Lehre der Kirche als Rahmen einer den aktuellen Herausforderungen gewachsenen Seelsorgepraxis voraus.
Die neun Kapitel des päpstlichen Hirtenschreibens gehören unterschiedlichen Textgattungen an. So werden im ersten und dritten Kapitel die biblischen Grundlagen über Ehe und Familie sowie deren lehramtliche Vertiefungen dargelegt. Dazwischen geschoben ist eine soziologisch gefärbte Schilderung über die «Wirklichkeit und die Herausforderungen der Familie». Bereits in diesem Kontext grenzt sich Franziskus von der vor allem im deutschsprachigen Raum geforderten kirchlichen Anerkennung von «Familienvielfalt» ab: «Es wird nicht mehr in aller Klarheit wahrgenommen, dass nur die ausschließliche und unauflösliche Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau eine vollkommene gesellschaftliche Funktion erfüllt, weil sie eine beständige Verpflichtung ist und die Fruchtbarkeit ermöglicht» (52). Der Papst wendet sich deshalb gegen «das Vordringen einer Vielfalt von Alternativen», die dazu führe, dass die Ehe als «ein veraltetes Angebot unter vielen» erscheine (53). Franziskus vermeidet es in der Folge, auf die Seelsorge für Menschen mit homosexuellen Tendenzen vertieft zu sprechen zu kommen. Denn diese Frage gehört nicht in den Kontext der Ehe und Familie. Er betont lediglich, dass Personen mit homosexuellen Tendenzen in ihrer Würde als Menschen geachtet und mit Respekt aufgenommen werden sollten (250). Es gebe aber «keinerlei Fundament dafür, zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn» (251).
Den Gendertheorien, welche der Forderung nach der «Familienvielfalt» zugrunde liegen, erteilt Franziskus ebenfalls eine Absage. Er bezeichnet «Gender» als «Ideologie» und als Angriff auf den Schöpfer: «Verfallen wir nicht der Sünde, den Schöpfer ersetzen zu wollen! Wir sind Geschöpfe, wir sind nicht allmächtig. Die Schöpfung geht uns voraus und muss als Geschenk empfangen werden». Deshalb gelte es, unser Menschsein «so zu akzeptieren und zu respektieren, wie es erschaffen worden ist» (56).
Spirituellen Charakter haben die Kapitel vier, fünf und neun. Dabei sticht das vierte Kapitel hervor, in welchem Franziskus eine originelle und spirituell tiefe Auslegung des Paulinischen Hohelieds der Liebe (1 Kor 13,4-7) gibt. In der Folge entwirft er einen Leitfaden für die Eheführung und gibt Ratschläge für ein gelingendes Miteinander in der Ehe. Dieses Kapitel von «Amoris laetitia» wird als Grundlage für die Ehepastoral sowie als Ermunterung und Gewissenserforschung für Eheleute zweifellos bleibende Bedeutung haben. Darauf aufbauend wendet sich der Papst im fünften Kapitel der Liebe zu, die fruchtbar wird, sowie der Bedeutung des Mutter- und Vaterseins. Das neunte Kapitel ist dann explizit der «Spiritualität in Ehe und Familie» gewidmet, die eine «Spiritualität der ausschliesslichen, aber nicht besitzergreifenden Liebe» sein solle. Unter Berufung auf Dietrich Bonhoeffer spricht Franziskus vom Verzicht, ja von der «Enttäuschung», die es aufgebe, vom Ehepartner das zu erwarten, was allein der Liebe Gottes eigen sei (320). Vielleicht kommt hier am besten das Grundanliegen des Papstes zum Ausdruck: Die Ehe nicht nur als theologisches oder gar rechtliches Institut zu verstehen, sondern sie als lebenslangen Reifungs- und Lernprozess der Liebe und Hingabe zu leben.
Die Kapitel sechs und sieben sind der Entwicklung neuer ehe- und familienpastoraler Methoden sowie der Erziehung der Kinder gewidmet. Im Vorfeld der Synoden war hierzu vielfach die Forderung erhoben worden, die Kirche müsse verbindliche Modelle der Ehevorbereitung vorlegen. Franziskus begnügt sich jedoch damit, allgemeine Grundsätze zu umreissen und die Erarbeitung von praxisorientierten Vorschlägen anderen zu überlassen (199). Auch das siebte Kapitel enthält allgemein gehaltene Erwägungen zur religiösen und ethischen Erziehung der Kinder. Besonders hilfreich ist die päpstliche Stellungnahme gegen eine unsensible Sexualerziehung, die Kinder und Jugendliche mit Botschaften «bombardiert», die nicht ihr Wohl und ihre Reifung anstreben (280-285). Die von der Bischofssynode geforderte neue pastorale Sprache wird im Übrigen auch noch zu entwickeln sein. Bislang ist in «Amoris laetitia» nur erkennbar, dass irreguläre Beziehungen als «komplexe Situationen» bezeichnet werden. Und der Begriff «irregulär» ist nicht verschwunden, soll aber offenbar in Zukunft nur noch in Anführungszeichen verwendet werden (305).
Aufgrund der von Walter Kardinal Kasper vor der Synode 2014 lancierten Debatte dürfte das achte Kapitel viel Aufmerksamkeit erhalten. Es trägt den programmatischen Titel: «Die Zerbrechlichkeit begleiten, unterscheiden, eingliedern». Der Papst fordert – nicht über die «Relatio Synodi» hinausgehend − eine Pastoral der Unterscheidung, die von Barmherzigkeit geprägt ist und nach Eingliederung strebt. In «Amoris laetitia» gibt es deshalb weder eine Zulassung von zivil wiederverheirateten Gläubigen zur Eucharistie. Noch ist von einem «Bussweg» die Rede, der die Beendigung einer die Ehe brechenden zweiten Geschlechtergemeinschaft überflüssig machen würde. Man könne hier «keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art» erwarten (300). Es sei nur möglich, eine neue Ermutigung auszudrücken zu einer verantwortungsvollen pastoralen Unterscheidung.
Eine solche Unterscheidung müsse sich durch einen differenzierten Blick für unterschiedliche Situationen auszeichnen. So sei es etwas anderes, ob kurz nach der Scheidung eine neue Beziehung eingegangen werde, mit negativen Folgen für die Kinder. Oder ob im Laufe der Zeit eine zweite Verbindung entstehe, die sich durch Treue, Hingabe und christliches Engagement auszeichne. Auch sei etwa der Fall zu bedenken, dass jemand im Hinblick auf die Erziehung der Kinder eine neue Verbindung eingegangen sei (298). Ferner gelte es, die mildernden Umstände zu berücksichtigen, seien es die Unkenntnis über die kirchliche Lehre, das Nichtverstehen der Werte, um die es gehe, oder Zwangslagen. Sodann gebe es Faktoren, welche die Entscheidungsfähigkeit begrenzten. Ebenfalls könne die Anrechenbarkeit durch Gewohnheiten, Gewalt, übermässige Affekte, psychische oder gesellschaftliche Faktoren vermindert oder aufgehoben sein. Deshalb beinhalte ein negatives Urteil über eine objektive Situation kein Urteil über die Anrechenbarkeit und Schuldhaftigkeit der betreffenden Person. Auch könne das Gewissen mit einer gewissen moralischen Sicherheit entdecken, dass ein an sich objektiv falsches Verhalten doch die Form der Hingabe sei, die von Gott in der konkreten Vielschichtigkeit der Begrenzungen gefordert sei, auch wenn es noch nicht völlig dem objektiven Ideal entspreche (303).
Das achte Kapitel gleicht mit solchen wohl nur Experten zugänglichen Distinktionen vom Stil her mehr einem moraltheologischen Handbuch für Beichtväter und geistliche Begleiter. Wenn dennoch das im Einzelfall zu leistende pastorale Ringen in das Scheinwerferlicht der globalen Medien gezogen wird, eröffnet dies ein nicht zu unterschätzendes Missbrauchspotential. Denn ob der Betonung von Sondersituationen, Bedingtheiten und mildernden Umständen kann in der öffentlichen Wahrnehmung leicht der Eindruck entstehen, dass es kein allgemein gültiges Wort des Herrn über den Ehebruch (Mt 5,31f) und kein dieses Wort authentisch auslegendes Lehramt der Kirche mehr gebe, sondern nur noch Einzelfälle, die in pastoraler Unterscheidung – unter vier Augen oder gleich in Eigenregie − gelöst werden müssten. Es ist freilich Papst Franziskus selbst, der davor warnt, dies könne der Kirche den Vorwurf der Doppelmoral eintragen (300).
Die für den Einzelfall geforderte «pastorale Bemühung, die Geister zu unterscheiden» (302), wird sich deshalb, wenn sie authentische Seelsorge sein will, stets an den Kriterien messen lassen müssen, welche für die Unterscheidung der Geister in der spirituellen Tradition der Kirche aufgestellt worden sind. Erinnert sei an den 1753 erschienenen Klassiker des Jesuiten Giovanni Battista Scaramelli «Die Unterscheidung der Geister zu eigener und fremder Seelenleitung» (Regensburg 1861; fe-Medienverlag Kisslegg 2008). Darin erklärt er, dass jeder Gedanke, der «auf irgendeine Art mit einer Wahrheit der heiligen Schrift oder einer Entscheidung der Concilien oder einer Lehre der apostolischen Tradition im Widerspruch steht, oder nicht nach dem Sinne der heiligen Kirche ist, nicht von Gott eingegeben sein kann und daher für einen falschen Geist gehalten werden muss» (VI. § 2. 62). Im «Dictionnaire de Théologie Catholique» (Paris 1924) heisst es: «Gott ist die Wahrheit, und er kann einer Seele nur Vorstellungen eingeben, die wahr sind sowie notwendigerweise in Übereinstimmung mit dem Gesamt der religiösen Wahrheiten stehen, deren Bewahrung er der Kirche übertragen hat. Wenn also eine Person sich von Gott inspiriert fühlt und Vorstellungen äussert, die offensichtlich der Lehre der Kirche widersprechen, muss man daraus schliessen, dass Gott nicht mit ihr ist» (Art. Discernement des esprits, Bd. IV, Sp. 1375-1415, hier 1405). Und mit Hans Urs von Balthasar gesagt: «Ein Geist, der beim Bedenken, Übersetzen, Entmythologisieren und Akkommodieren des Gehaltes der christlichen Offenbarung das Schwere leicht macht, die Substanz verdünnt, sie als Ballast über Bord wirft, um unbeschwerter in die Zukunft auszufahren oder um ganz einfach besser ‘anzukommen’: dieser Geist ist nicht aus Gott» (Klarstellungen. Zur Unterscheidung der Geister, Freiburg i. Br. 1971, S. 24). Der innere Zusammenhang zwischen der Wahrheit des Glaubens und der daran gebundenen Unterscheidung im Einzelfall muss auch in der Ehe- und Familienpastoral der Zukunft immer gewahrt bleiben. Andernfalls läuft die Seelsorge nicht nur auf einen Subjektivismus hinaus, der Offenbarung und Kirche überflüssig macht. Die Scheidung in eine theoretische Lehre, an der die Kirche offiziell festhält, und in eine pastorale Praxis, die im Einzelfall darüber hinweggehen darf, würde auch der Glaubwürdigkeit der Kirche in der heutigen säkularen Gesellschaft schaden. Auch wenn diese sich bisweilen vom christlichen Glauben entfernt hat, hält sie doch Werte wie Kohärenz, Authentizität und Ehrlichkeit hoch. Kirchliche Doppelbödigkeit würde deshalb die Verkündigung unglaubwürdig machen. Und sie würde gerade dem Bemühen im Weg stehen, säkularisierte Zeitgenossen wieder für Christus zu gewinnen.
Dieser Text erscheint in gedruckter Form in „Die Tagespost“ (Würzburg) vom 9. April 2016.
7000 Chur, 8. April 2016
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