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Bistum Chur

Predigt von Bischof Joseph Maria Bonnemain in der Christmette am Heiligen Abend, 24. Dezember 2021, in der Kathedrale in Chur

„Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt.“

Liebe Mitbrüder, liebe Christgläubige

Schon viele Jahre vor der Geburt Jesu in Bethlehem sprach Jesaja vom Geschenk, ja vom Kind, das Gott uns Menschen schenken würde. Viele Generationen haben von der Hoffnung auf dieses versprochene Kindesgeschenk gelebt. Dann in der Nacht von Bethlehem vor mehr als 2000 Jahren wurde dieses versprochene Geschenk eine historische Realität. Dieses Ereignis gehört aber nicht bloss der Vergangenheit an, sondern bleibt immer unverändert aktuell. Es lohnt sich, das Wort uns zu betonen. Mit uns sind nicht nur die damaligen Menschen des Volkes Israel gemeint, sondern alle Menschen heute und alle Menschen bis zur Ewigkeit. Jesus ist das Kind Gottes für uns, für uns ganz persönlich. Dieses Kind, das uns gehört, dieses Kind, das uns geschenkt ist, ist mit den Worten des Propheten „Fürst des Friedens“, sodass „der Friede kein Ende hat “.

Im Herrn Geliebte: Wir könnten meinen, diese Worte stimmen nicht, sie sind pure Fantasie – denn Krieg beherrscht die Welt. Wir leben in einer Welt voll Horror, Ausbeutung und Rivalitäten. Wo ist der Fürst des Friedens, wo ist dieses Kind, wo der Friede, der kein Ende kennt? Die Bibel muss eine Fälschung sein. Tatsächlich, wenn wir die Lage unserer Welt betrachten, stellen wir fest, dass der Krieg sehr hartnäckig ist. Dass Grausamkeit sich ausbreitet, dass Ungerechtigkeit wächst, dass Egoismus vieles beherrscht. Gerade deswegen, gerade hier finden wir die Erklärung, warum das geschenkte Kind stets zu jeder Zeit von neuem geschenkt werden muss. Der Fürst des Friedens hat viel zu tun, zu allen Zeiten. Der Einsatz für den Frieden muss ununterbrochen fortgesetzt werden. Der Friede ist doch hartnäckiger als der Krieg. Der Friede darf nicht ein Ende erfahren. Man darf nie aufhören, ihn zu fördern. Die Nächstenliebe muss sich noch kräftiger ausbreiten als die Grausamkeit. Die Gerechtigkeit muss höher wachsen als die Ungerechtigkeit. Die Grosszügigkeit muss die Oberhand über den Egoismus gewinnen.

Liebe Schwestern und Brüder. Wir müssen immer besser und immer mehr verstehen, wie sehr das Jesuskind uns geschenkt werden muss, wie sehr dieses Kind unserer Welt von heute geschenkt werden muss. Die Welt hat es nötiger denn je. Wir können uns schon stark einsetzen für den Frieden. Es ist richtig, dass wir allerlei unternehmen, dass die Menschen sich bemühen, den Frieden wieder herzustellen. Aber rein durch menschliche Anstrengungen werden wir es nie schaffen. Wir brauchen zu jeder Zeit, dass der, der der Friede ist, uns von innen heraus dazu befähigt.

Bei der Erzählung der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem erfahren wir, dass die Engel den Hirten eine Botschaft brachten, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.“ Auch hier kommen die Elemente wieder zum Vorschein, die wir vorher angeschaut haben. Es geht um heute und es geht um uns. Wir Menschen müssen uns verantwortlich und sehr bewusst für den Frieden, für die Nächstenliebe, für die Gerechtigkeit, für die Grosszügigkeit stets einsetzen. Zugleich aber muss sich Gott persönlich, zu jeder Zeit, mit seinem göttlichen Dasein bei uns einsetzen. Wir brauchen das geschenkte Kind, das „Gott mit uns“, den Immanuel.

Nun kommt die grosse Frage: Verdienen wir Menschen mit unserer Widersprüchlichkeit, dass Gott sich uns schenkt? Hat die Menschheit das je verdient? Wenn wir uns diese Frage ernsthaft stellen, zeigen wir dadurch, dass wir von Gott nichts verstanden haben. Gott schenkt sich uns, ohne dass wir es verdient haben, gerade, weil wir es nie verdienen können. Er muss immer die Initiative ergreifen. Er muss für uns Menschen immer den ersten Schritt der Liebe tun. Im Brief an die Römer schreibt der heilige Paulus: „Also kommt es nicht auf das Wollen und Streben des Menschen an, sondern auf das Erbarmen Gottes“ (Röm 9,16).

In Bethlehem war es für alle klar. Nicht einmal Maria hatte es verdient, hatte die Geburt des Gottessohnes verdient. Sie betrachtete sich als Magd des Herrn, an der Gott Grosses getan hatte. Auch der heilige Joseph war sich bewusst, nicht verdient zu haben, Vater des Kindes Gottes zu sein. Gerechterweise wollte er Maria leise entlassen, als er davon hörte. Und die Hirten staunten und fürchteten sich, weil sie sich ihrer Unwürde bewusst waren. Wir sollten die Reihe von all denen fortsetzen, die sich sehr bewusst waren bzw. sind, das Sichschenken Gottes an die Menschen nie verdient zu haben. Gott ist unendlich grösser als unsere schäbige Kleinlichkeit. Er wird nie müde, für uns Menschen stets geboren zu werden. Er wird nie aufhören, uns gratis verwandeln zu wollen.

Liebe Christgläubige, Weihnachten eröffnet stets eine neue Mentalität, eine Mentalität, die aufhört mit den Kriterien von Verdienen und Nichtverdienen zu handeln. Eine Mentalität, die leider in uns sehr verwurzelt ist. Kommen wir nun zum Praktischen.

Manchmal, wenn jemand Hilfe von uns braucht, einen Gefallen erwartet, Unterstützung nötig hat, denken wir: Eigentlich hat er es nicht verdient. Von ihm habe ich selten Unterstützung erhalten, kaum Hilfe erfahren. Er hat mir gegenüber nie Verständnis gezeigt. Ja, er verdient es nicht, dass ich mich jetzt für ihn einsetze. Wiederum, wenn jemand Schweres durchmacht oder getadelt wird, denken wir: Er hat es verdient, selber schuld, es ist nicht verwunderlich. Ich sah es schon kommen. Er zahlt dafür, was er sich selber eingebrockt hat. Mit dieser Mentalität werden wir die Welt nie verändern können. Wir dürfen nicht darauf warten, dass die Menschen uns lieben, helfen, unterstützen, verstehen, sich entschuldigen, um das Gleiche mit ihnen zu tun. Nein, wir müssen sie, ohne dass sie etwas dafür geleistet haben, lieben, helfen, verzeihen, beistehen, hochschätzen und dann beginnt eine neue Geschichte, dann ist ein neuer Mensch geboren. Da beginnen wir mit Gott und wie Gott zu handeln: „Ein Kind ist uns geschenkt … der Friede hat kein Ende. Amen“