Von Martin Grichting, Generalvikar
Auch in der Schweiz haben sich Katholikinnen und Katholiken für die vatikanische Befragung zu Ehe und Familie interessiert, die im Hinblick auf die Bischofssynode vom kommenden Oktober durchgeführt wird. Ihre Forderungen sind: Kommunion für zivilrechtlich wiederverheiratete Geschiedene und die kirchliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften sowie deren Segnung.
Das ist wenig überraschend. Dafür überrascht die Feststellung der Macher der Meinungsumfrage, dass die Bischofssynode und die Gläubigen weitgehend aneinander vorbeiredeten. Denn eigentlich reden die Umfrageteilnehmer nicht an der Bischofssynode vorbei, sondern an Papst Franziskus. Dieser hat kürzlich die Bulle für das Heilige Jahr veröffentlicht, das am 8. Dezember 2015 beginnen wird und die Barmherzigkeit Gottes in den Mittelpunkt stellt: «Das Wort der Vergebung möge alle erreichen, und die Einladung, die Barmherzigkeit an sich wirken zu lassen, lasse niemanden unberührt.» Franziskus kann so sprechen, weil er Barmherzigkeit klassisch versteht, wie sie im biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn beschrieben wird. Dieser Sohn kehrt, nachdem er das Erbe verprasst und unter seiner Würde gelebt hat, zum Vater zurück und anerkennt, dass dessen Wertmassstab doch der richtige war. So erlangt er Barmherzigkeit und Verzeihung. Auf die Bischofssynode zur Familie und das Heilige Jahr bezogen heisst das: Franziskus betrachtet − biblisch fundiert und im Einklang mit seinen Vorgängern auf dem Stuhl Petri − die Ehe, die aus einem Mann und einer Frau besteht sowie unauflöslich ist, als der gottgegebene und einzige Ort, wo Sexualität ausgelebt werden soll. Wer es nicht schafft, gemäss diesem göttlichen Plan zu leben, dies aber zumindest in Ansätzen einsieht und ein Mindestmass an Willen zur Rückkehr zu diesem Plan zeigt, für den hält Franziskus die vollen Schätze der göttlichen Barmherzigkeit bereit.
Die Umfrageteilnehmer in der Schweiz aber wollen gar keine solche Barmherzigkeit. Denn die von Franziskus vertretenen lehramtlichen Grundsätze betreffend Ehe und Familie würden von ihnen «nicht (mehr) als verbindliche Leitorientierungen und normativ unbestrittene Vorgaben anerkannt». Sie sagen damit dem Vater aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn: «Was wir gemacht haben, wollen wir weiterhin tun, denn es ist gut. Gib uns mehr Geld!» Die Umfrageteilnehmer wollen also nicht den Wertmassstab der von der Kirche überlieferten biblischen Botschaft anerkennen und ihren Lebensstil ändern. Vielmehr erwarten sie, dass sich die kirchliche Glaubensverkündigung ändert und sich dem Wertmassstab ihres Lebensstils anpasst. Die Kirche habe «vielfältige Familienrealitäten» wie Patchwork- und Regenbogen-Familien anzuerkennen und zu respektieren, wird deshalb verlangt. Nur so könne ein christliches Familienverständnis wieder Relevanz erlangen. Barmherzigkeit gemäss Franziskus erscheint gegenüber einer solchen Forderung als demütigendes Almosen, als Akt der Herablassung, den der emanzipierte Zeitgenosse von sich weist. Denn Barmherzigkeit zu empfangen würde eben bedeuten, den Wertmassstab des Vaters, hier des Heiligen Vaters, anzuerkennen. Stattdessen wird die Definitionshoheit über den Glauben gefordert.
Bei der kommenden Bischofssynode geht es somit letztlich um mehr als um Ehe und Familie. Es geht darum, ob die kirchliche Lehre oder die gesellschaftliche Realität die Richtschnur ist, an der sich das Leben der Gläubigen zukünftig ausrichten soll. Mir kommt Erzbischof Johannes Dyba in den Sinn, in dessen Bistum Fulda ich studiert hatte. Uns Priesteranwärtern sagte er einmal: «Wir sollen die Welt umarmen, um ihr kräftig christlichen Geist einzuhauchen. Stattdessen lassen sich manche von der Welt umarmen, bis ihnen der letzte christliche Schnauf ausgeht.» Letzteres ist auch nicht im Sinne von Papst Franziskus, der in seinem Apostolischen Schreiben «Evangelii Gaudium» die Katholiken vor einem Minderwertigkeitskomplex gewarnt hat, «der sie dazu führt, ihre christliche Identität und ihre Überzeugungen zu relativieren oder zu verbergen». Das führe zu einer «Art Besessenheit, so zu sein wie alle anderen». In der Tat: Ein Schuss Selbstbewusstsein afrikanischer oder asiatischer Katholiken könnte dem helvetischen Katholizismus helfen, vom gesellschaftlichen Mainstream unterscheidbar zu bleiben.