Von Bischof Vitus Huonder
Seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus hat der Begriff der Barmherzigkeit (misericordia) Hochkonjunktur. Der Wahlspruch des Heiligen Vaters selber greift das Thema mit den Worten auf: miserando atque eligendo. Damit nimmt er Bezug auf die Berufung des Apostels Matthäus (Mt 9,9-13): „Als Jesus weiterging, sah er einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Matthäus auf und folgte ihm. Und als Jesus in seinem Haus beim Essen war, kamen viele Zöllner und Sünder und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten“.
Jesus schaute Matthäus „mit dem Blick des Erbarmens und der Erwählung an“, kommentiert der heilige Abt Beda diese Stelle der Heiligen Schrift. Den Wortlaut dieser Erklärung nimmt Papst Franziskus eben als Wahlspruch auf: Erbarmend und erwählend. Das Erbarmen des Herrn führt zur Erwählung, die Erwählung ist ein Akt des sich erbarmenden Herrn.
Die Barmherzigkeit ist eine jener Aussagen über Gott, die in der Heiligen Schrift tief verankert ist. Doch wird dieser bedeutende theologische Ausdruck oft als Gegensatz zur Gerechtigkeit und zur Wahrheit gesehen. Das kann so weit gehen, dass es zu Angriffen auch auf das Halten der Gebote Gottes kommt. Auf diese Gebote hinzuweisen wird dann als Legalismus und Pharisäismus bezeichnet, und Jesus als dessen großer Kritiker. Der Mensch kann leben, wir er will. Er ist der Barmherzigkeit Gottes sicher. Es braucht keine besonderen moralischen Anstrengungen mehr. Es braucht kein Beachten der Gebote mehr. Diese Haltung erinnert an die Aussagen von Martin Luther in einem Schreiben an Melanchthon: „Sei ein Sünder und sündige nur tapfer darauf los, aber glaube noch tapferer und freue dich in Christo, welcher der Sieger ist über Sünde, Tod und Welt. Man muss sündigen, so lange man lebt; es genügt aber, dass wir den Reichtum der Gnade und das Lamm erkennen, das die Sünden der Welt trägt, von diesem kann man keine Seele trennen, wenn wir auch an einem Tage hunderttausend Mal Unzucht treiben und töten“.
Dagegen schreibt der heilige Paulus, und wir spüren in diesem Text, wie er um das rechte Verständnis von Gesetz, Gnade (Barmherzigkeit) und Freiheit ringt: „Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden. Das Gesetz aber ist hinzugekommen, damit die Übertretung mächtiger werde; wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden. Denn wie die Sünde herrschte und zum Tod führte, so soll auch die Gnade herrschen und durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben führen, durch Jesus Christus, unseren Herrn. Heißt das nun, dass wir an der Sünde festhalten sollen, damit die Gnade mächtiger werde? Keineswegs! Wie können wir, die wir für die Sünde tot sind, noch in ihr leben? Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein. Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mit gekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn durch sein Sterben ist er ein für allemal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott. So sollt auch ihr euch als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus. Daher soll die Sünde euren sterblichen Leib nicht mehr beherrschen, und seinen Begierden sollt ihr nicht gehorchen. Stellt eure Glieder nicht der Sünde zur Verfügung als Waffen der Ungerechtigkeit, sondern stellt euch Gott zur Verfügung als Menschen, die vom Tod zum Leben gekommen sind, und stellt eure Glieder als Waffen der Gerechtigkeit in den Dienst Gottes. Die Sünde soll nicht über euch herrschen; denn ihr steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Heißt das nun, dass wir sündigen dürfen, weil wir nicht unter dem Gesetz stehen, sondern unter der Gnade? Keineswegs! Ihr wißt doch: Wenn ihr euch als Sklaven zum Gehorsam verpflichtet, dann seid ihr Sklaven dessen, dem ihr gehorchen müßt; ihr seid entweder Sklaven der Sünde, die zum Tod führt, oder des Gehorsams, der zur Gerechtigkeit führt. Gott aber sei Dank; denn ihr wart Sklaven der Sünde, seid jedoch von Herzen der Lehre gehorsam geworden, an die ihr übergeben wurdet. Ihr wurdet aus der Macht der Sünde befreit und seid zu Sklaven der Gerechtigkeit geworden“ (Röm 5,19 – 6,18).
Der Bezug der Heiligen Schrift, der Bezug Jesu auf Gottes Barmherzigkeit will nicht die Sünde verharmlosen und wegdiskutieren. Dieser Bezug will das Gegenteil, nämlich das Edle, das Gute, das Heilige fördern. Der barmherzige Gott will aus dem Sünder einen Gerechten, einen Heiligen machen und ihn zu einem heiligen Leben führen. Deshalb ist Barmherzigkeit immer eine Aufforderung zur Heiligkeit, folglich ein Ansporn zur Umkehr: „Geh hin, und sündige nicht mehr“ (Joh 5,15; 8,11).
Kehren wir zurück zum Matthäuskommentar des heiligen Beda. Aufschlussreich ist die weitere Darlegung des Abtes: „Und weil er ihn mit dem Blick des Erbarmens und der Erwählung anschaute, sprach er zu ihm ‘Folge mir nach!’ ‘Folgen’ aber meinte: ‘nachahmen’, folgen nicht mit den Füßen, sondern mit der Tat des Lebens: ‘Wer sagt, dass er in ihm bleibt muss auch leben, wie er gelebt hat’ (1 Joh 2,6)“. Die Erfahrung des Erbarmens Gottes mündet in die Nachfolge, in ein Leben, das dem Leben des Herrn gleicht. Dem Herrn gleichgestaltet zu werden, ist das Ziel der Barmherzigkeit. Wer sich der göttlichen Barmherzigkeit übergibt, nimmt Gottes Angebot der Heiligung und der Rechtfertigung an.