Hinführung zur Verkündigungsbulle „Misericordiae Vultus“ des Jubiläums der Barmherzigkeit
Von Weihbischof Marian Eleganti
Die Verkündigungsbulle zum Heiligen Jahr, das vom 8. Dezember 2015 bis zum Christkönigsonntag am 20. November 2016 dauert, nimmt einen Begriff – „Misericordiae Vultus“ – auf, den schon Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch in Manopello am 1. Sept. 2006 in einem Gebet vor dem Muschelseidetuch benutzt hatte: „Herr Jesus, zeige uns, so bitten wir Dich, Dein immer neues Antlitz, geheimnisvoller Spiegel der unendlichen Barmherzigkeit Gottes … Deine Augen ruhen auf uns mit Zartheit und Erbarmen“. Auch für Johannes Paul II. war die Barmherzigkeit Gottes ein ganz zentrales Thema seines Pontifikates (vgl. Enzyklika Dives in Misericordia vom 30. Nov. 1980; Einführung des Barmherzigkeitssonntags, Dekret vom 29. Juni 2002). Papst Franziskus erbittet allen Lesern seines Schreibens zum Heiligen Jahr 2015/16 Gnade, Barmherzigkeit und Frieden.
„Jesus Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters.“ So lautet der erste Satz der Bulle, der die Überschrift zum Ganzen bildet und das Geheimnis des christlichen Glaubens überhaupt auf den Punkt bringen soll, wie Franziskus im Nachsatz dazu schreibt. Der Vater „voll des Erbarmens“ (Eph 2,4), zeigt sich in Jesus von Nazareth als „barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6). Wer Jesus sieht, sieht den Vater. (Joh 14,9). In der Barmherzigkeit Gottes sieht Franziskus die Quelle der Freude, der Gelassenheit und des Friedens (2), den „letzten und endgültigen Akt, mit dem Gott uns entgegentritt.“ (6)
Diese Barmherzigkeit soll auch „das grundlegende Gesetz sein, das im Herzen eines jeden Menschen ruht und den Blick bestimmt, wenn er aufrichtig auf den Bruder und die Schwester schaut, die ihm auf dem Weg des Lebens begegnen.“ (2) Es geht also Franziskus nicht nur um die Barmherzigkeit Gottes, sondern auch um unsere mitmenschliche, die selbst zum „wirkungsvollen Zeichen des Handelns des Vaters“ werden soll. Denn „genau darum habe ich ein ausserordentliches Jubiläum der Barmherzigkeit ausgerufen. Es soll eine Zeit der Gnade für die Kirche sein und helfen, das Zeugnis der Gläubigen stärker und wirkungsvoller zu machen.“ (3).
Der Beginn des Heiligen Jahres am Fest der Unbefleckten Empfängnis weist darauf hin, dass Gott „auf die Schwere der Sünde mit der Fülle der Vergebung [antwortet]“. Seine Barmherzigkeit „übersteigt stets das Mass der Sünde, und niemand kann der verzeihenden Liebe Gottes Grenzen setzen.“ (3). Die Heilige Pforte, die Franziskus am 8. Dezember öffnet, wird also ausdrücklich eine Pforte der Barmherzigkeit sein, durch welche die Gläubigen schreiten und dabei „die tröstende Liebe Gottes erfahren, welcher vergibt und Hoffnung schenkt.“ (3) Solche Pforten der Barmherzigkeit wird es auch in den Papstbasiliken Roms geben und in allen Teilkirchen der Welt, in welchen am darauffolgenden 3. Adventssonntag in der jeweiligen Bischofskirche oder Konkathedrale eine Pforte der Barmherzigkeit geöffnet werden soll. Darüber hinaus kann der Ortsbischof auch eine Wallfahrtskirche bezeichnen, in welcher eine Pforte der Barmherzigkeit offen stehen wird.
Mit dem 8. Dezember erinnert der Papst auch an das Ende des II. Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren. Franziskus zitiert aus der Eröffnungsrede von Johannes XXIII., welche die Kirche als eine „sehr liebevolle, gütige und geduldige Mutter aller“ vorstellen wollte, „voller Erbarmung und mit Wohlwollen für ihre Kinder, die von ihr getrennt sind.“ Paul VI. hatte dann entsprechend beim Abschluss des Konzils das Gleichnis vom barmherzigen Samariter „zum Paradigma für die Spiritualität dieses Konzils“ erklärt. Das alles ist Franziskus sehr bewusst, und er zitiert deshalb lange aus den Reden dieser Päpste.
Dabei geht es ihm darum, den „doktrinären Reichtum“ der Kirche den Menschen „in jeder Lebenslage, in all ihren Krankheiten und in all ihren Bedürfnissen“ so zu vermitteln, dass er ihnen dient, sie nicht schreckt oder überfordert, sondern ermutigt. Er zitiert Paul VI: „Natürlich werden die Irrtümer abgelehnt, das verlangt die Verpflichtung zur Liebe und nicht weniger die Verpflichtung zur Wahrheit. Aber für die Menschen gibt es nur Ermutigung, Respekt und Liebe. Statt niederschmetternder Einschätzungen schlägt das Konzil ermutigende Heilmittel vor…“ (4). Der pastorale Ansatz des Papstes ist hier unverkennbar: „Wir sehr wünsche ich mir, dass die kommenden Jahre durchtränkt sein mögen von der Barmherzigkeit und dass wir auf alle Menschen zugehen und ihnen die Güte und Zärtlichkeit Gottes bringen! Alle, Glaubende und Fernstehende, mögen das Salböl der Barmherzigkeit erfahren, als Zeichen des Reiches Gottes, das schon unter uns gegenwärtig ist.“ (5)
Das erinnert mich an Hildegard von Bingen:
Die in Unordnung geratenen Elemente der Welt klagen in ihren visionären Texten über den Menschen: „Alles, was sie tun, richten sie auf ihre Begehrlichkeit aus.“ Die Herzenshärte spricht: „Ich will mich für niemanden stärker einsetzen, als auch er mir nützlich sein kann.“ Aus der Schar der Seligen kommt dann die Antwort der Barmherzigkeit: „O du versteinertes Wesen … Mit liebendem Auge berücksichtige ich alle Lebensnöte und fühle mich allem verbunden. Den Gebrochenen helfe ich auf und führe sie zur Gesundung. Eine Salbe bin ich für jeden Schmerz.“
Gottes Barmherzigkeit ist für Franziskus keine abstrakte Idee, sondern eine erfahrbare konkrete Wirklichkeit, durch die er sein Wesen zugleich väterlich und mütterlich offenbart: „Der dir all Deine Schuld vergibt und all Deine Gebrechen heilt, der Dein Leben vor dem Untergang rettet und Dich mit Huld und Erbarmen krönt.“ (Ps 103,3-4) (6); aber auch: „Recht verschafft den Unterdrückten, den Hungernden gibt er Brot; der Herr befreit die Gefangenen. Der Herr öffnet den Blinden die Augen, er richtet die Gebeugten auf. Der Herr beschützt die Fremden und verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht .“ (Ps 146,7-9). Damit sind wir in der Gegenwart angekommen.
Es handelt sich um eine leidenschaftliche Liebe Gottes, die wir betätigen sollen. „Sie kommt aus dem Innersten und ist tiefgehend, natürlich, bewegt von Zärtlichkeit und Mitleid, von Nachsicht und Vergebung.“ (6) Denn Seine Huld währt ewig (Ps 136).
Der Papst erinnert an den mitleidvollen Blick Jesu, mit welchem Er sich der Witwe von Naim erbarmt – und den Apostel Matthäus berufen hat. In diesem Zusammenhang zitiert der Papst seinen Wahlspruch „miserando atque eligendo“ (sich erbarmend und erwählend), eine Formulierung des hl. Beda Venerabilis in seinem Kommentar zu dieser Matthäusstelle. Im Weiteren führt der Papst aus, dass Barmherzigkeit nicht nur eine Eigenschaft des Handelns Gottes ist, sondern auch ein Kriterium, an dem man erkennt, wer wirklich seine Kinder sind. Denn „wir sind gerufen, Barmherzigkeit zu üben, weil uns selbst bereits Barmherzigkeit erwiesen wurde.“ (9). Sie schliesst vollkommene und unerschöpfliche Vergebungsbereitschaft auch unsererseits ein. „Die Sonne soll über Eurem Zorn nicht untergehen.“ Eph 4,26. Und: „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.“ Mt 5,7.
Der Papst ist davon überzeugt, dass die Glaubwürdigkeit der Kirche über den Weg der barmherzigen und mitleidenden Liebe führt. (10). Franziskus erinnert ausdrücklich an Dives in Misericordia von Johannes Paul II., eine Enzyklika, die damals „unerwartet veröffentlicht wurde“ und „viele wegen des gewählten Themas [überraschte]“. Franziskus sieht mit Johannes Paul II. eine Dringlichkeit der Zeit, die Barmherzigkeit in der Welt von heute zu verkünden und zu bezeugen. (11). Er nennt die Barmherzigkeit „das pulsierende Herz des Evangeliums“. (12). Sprache und Gesten der Kirche müssen die Barmherzigkeit vermitteln und so in die Herzen der Menschen als Werk der Neuevangelisierung eindringen. Denn die erste Wahrheit der Kirche ist die Liebe Christi. (12).
Ausserdem ist die Barmherzigkeit ein klarer Imperativ Jesu: „Seid barmherzig, wie es auch Euer Vater ist!“ Lk 6,36 (13).
Es folgen konkrete Vorschläge:
1. Die Pilgerfahrt. Unser ganzes Leben ist eine solche. Sie soll Anreiz zur Umkehr sein. Das Durchschreiten der Pforte der Barmherzigkeit beinhaltet zum einen, die Barmherzigkeit Gottes zu umarmen und sich gleichzeitig selbst zu verpflichten, barmherzig zu unseren Mitmenschen zu sein. Vor allem sollen wir nicht richten und nicht verurteilen, weil der Mensch in seinen Urteilen an der Oberfläche bleibt, während nur Gott bis ins Innerste sieht. Dazu gehört auch, den Ruf des Nächsten nicht durch üble Nachrede zu schädigen. (14)
2. An die Peripherie gehen. Die Wunden der Nächsten sehen und mit Trost salben. Über die Werke der Barmherzigkeit nachdenken und sie üben.
a. Die leiblichen: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben; Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und Tote begraben
b. Die geistigen: den Zweifelnden recht raten, die Unwissenden lehren, die Sünder zurechtweisen, die Betrübten trösten, Beleidigungen verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen und für die Lebenden und toten zu Gott beten.
3. Die österliche Busszeit als besondere Zeit der Barmherzigkeit.
4. Die Initiative 24 Stunden für den HERRN: Freitag und Samstag vor dem 4. Fastensonntag. Im Zentrum: die Beichte als Sakrament der Barmherzigkeit. „Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass die Beichtväter ein wahres Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit sein sollen.“ (17) Interessanter Hinweis: „Sie stellen keine aufdringlichen Fragen, vielmehr unterbrechen sie – wie der Vater im Gleichnis – die vorbereitete Rede des verlorenen Sohnes, denn sie verstehen es, im Herzen eines jeden Beichtenden den Ruf um Hilfe und das Verlangen nach Vergebung zu lesen.“
5. Missionare der Barmherzigkeit, Zeichen der mütterlichen Sorge der Kirche. Es handelt sich um Priester, „denen ich die Vollmacht geben werde, auch von den Sünden loszusprechen, die normalerweise dem Apostolischen Stuhl vorbehalten sind.“ (18) Sie sollen auch predigen und als Prediger eingeladen werden und „Volksmissionen“ organisieren, Beichte hören und zur Beichte motivieren.
6. An alle Menschen, die einer kriminellen Vereinigung angehören, aber auch an die Förderer und Komplizen der Korruption, richtet der Papst den Aufruf: „Ändert Euer Leben!“ (19). Hier geht es vor allem um Geld, das niemand ins Jenseits mitnehmen kann. Nur in diesem Zusammenhang erinnert Franziskus an das Gericht Gottes, ein sog. Drohbotschaft also: „Früher oder später kommt für alle das Gericht Gottes, dem keiner entfliehen kann.“ (19).
Endlich behandelt der Papst an dieser Stelle die Frage, wie Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, „zwei Dimensionen einer einzigen Wirklichkeit“, zueinander stehen. Vor allem handelt es sich hier nicht um Gegensätze (21). Er erinnert daran, wie Jesus die legalistische Auffassung von Gerechtigkeit der Pharisäer überwunden hat. Vor allem bleibt Gott nicht bei der Gerechtigkeit stehen. Denn dann wäre Er nicht mehr Gott, sondern wie die Menschen. Trotzdem: „Wer einen Fehler begeht, muss die Strafe verbüssen. Aber dies ist nicht der Endpunkt, sondern der Anfang der Bekehrung, in der man die Zärtlichkeit der Vergebung erfährt.“ Zusammen mit der Gerechtigkeit muss also immer die Liebe erfahrbar bleiben. Die Gerechtigkeit steht sozusagen in ihrem Dienst und wächst durch die Liebe über sich selbst heraus.
Weitere konkrete Vorschläge:
7. Der Jubiläumsablass. Die Heiligkeit der unzählbaren Schar der Heiligen und Seligen „kommt unserer Gebrechlichkeit zu Hilfe, und so kann die Mutter Kirche mit ihren Gebeten und ihrem Leben der Schwachheit der einen mit der Heiligkeit der anderen entgegenkommen.“
8. Förderung des interreligiösen Dialogs mit Juden und Muslimen durch die gemeinsame Verehrung der Barmherzigkeit Gottes.
9. Die Mutter der Barmherzigkeit: Maria. Sie bezeugt, „dass die Barmherzigkeit des Sohnes Gottes grenzenlos ist und alle erreicht, ohne jemanden auszuschliessen.“ (24)
10. Die Apostel der Barmherzigkeit. Faustyna Kowalska.
Der Papst schliesst noch einmal mit der Kernaussage, dass die Kirche berufen ist, „als Erste glaubhafte Zeugin der Barmherzigkeit zu sein, indem sie diese als die Mitte der Offenbarung Jesu Christi bekennt und lebt.“ (25). Sie führt alle Menschen zur nie versiegenden Quelle der Barmherzigkeit Gottes, die ohne Ende ist und ahmt diese in ihrem Leben und Zeugnis nach.