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Bistum Chur

Hinschauen und hinhören. Systemische Defizite und Risiken erkennen und angehen, Missbräuche ahnden und Vertuschung verhindern.

Medienmitteilung der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und der Konferenz der Vereinigungen der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens (KOVOS)

Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz

Das Pilotprojekt zu sexuellem Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz hat in den kirchlichen Archiven und durch Gespräche mit Betroffenen Unterlagen und Aussagen ans Licht gebracht, die auf das Ausmass der Taten und das Leid der Betroffenen schliessen lassen. Zugleich zeigen die Ergebnisse menschliche Fehlleistungen und grobfahrlässiges bis verantwortungsloses Handeln sowie das Scheitern der kirchlichen Institutionen, deren Führungspersonen Missbräuche gedeckt und damit weitere Opfer in Kauf genommen haben. Lange haben die Verantwortlichen gezögert, sich dieser Schuld zu stellen und die grosse Mitverantwortung für die Verbrechen zu übernehmen, unter deren Folgen die Betroffenen oft ihr Leben lang leiden. Mit dem Pilotprojekt und dem bereits beschlossenen wissenschaftlichen Folgeprojekt 2024–2026 ist ein Anfang in der schweizweiten Aufarbeitung gemacht. Sie wird noch Jahre in Anspruch nehmen. Zudem haben die Verantwortlichen in der Kirche neue Massnahmen beschlossen, um die Risiken für weitere Missbräuche zu minimieren und deren Vertuschung zu verhindern.

 

Mit dem Pilotprojekt zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts liegt zum ersten Mal eine Gesamtbetrachtung zur Schweiz vor (für Informationen zu den Ergebnissen verweisen wir auf die Medienmitteilung des Forschungsteams der Universität Zürich). Es war zu erwarten, dass das Pilotprojekt Abgründe aufdecken würde. Grossangelegte Forschungsprojekte verschiedener Länder und diverse Untersuchungen einzelner Schweizer Institutionen hatten längst vergleichbare Fakten zu Tage gefördert.

Trotz verschiedener Bemühungen und Initiativen in den letzten Jahren haben die verantwortlichen Institutionen der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz lange gezögert, sich dem Thema hierzulande gemeinsam zu stellen. Jahrzehntelang betrachteten insbesondere die Spitzen von Bistümern und Ordensgemeinschaften jeden Missbrauch als Einzelfall und versuchten irgendwie damit umzugehen. Der kritische Blick auf das System wurde vermieden. Denn es fällt viel schwerer einzugestehen, dass es nicht nur um einzelne Täter und Täterinnen oder um Fehlleistungen einzelner Leitungspersonen geht, sondern dass wichtige Grundzüge der katholischen Kirche den sexuellen Missbrauch in diesem Aussmass überhaupt ermöglicht und begünstigt haben.

Verantwortungsloses Handeln kirchlicher Führungspersonen
Kirchliche Führungspersonen – inbesondere die Bistums- und Ordensleitungen und für die Anstellung von kirchlichen Mitarbeitenden zuständige Behörden – haben es zugelassen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die sich in der Kirche engagierten, die bei der Kirche Heimat und Schutz suchten, Sexualstraftätern oft schutzlos ausgeliefert waren. Selbst verurteilte Priester wurden geschützt und versetzt, andere wurden dem Zugriff der Justiz entzogen. Verbrechen wurden bagatellisiert und, nicht zuletzt aus religiösen Motiven, vertuscht. Damit haben die jeweiligen Verantwortungsträger in Kauf genommen, dass die Täter und Täterinnen weiter Gewalt ausübten und weitere Minderjährige und Erwachsene Opfer von Sexualdelikten wurden. Seelsorgende haben in der Vergangenheit aktiv dazu beigetragen, dass die Missbrauchs-Betroffenen auf eine Mauer des Schweigens trafen, dass ihre Familien und die Gesellschaft ihnen weniger trauten als der Autorität der Kirche. Auch die Haltung gegenüber Frauen, die nicht selten als Arbeitskräfte ausgenutzt wurden, bildete gerade in den von Ordensgemeinschaften geführten Heimen und Schulen eine Grundlage für Überforderung und Gewalt.

Als kirchliche Institutionen tragen wir eine grosse Mitverantwortung dafür, dass so viele Menschen in der Kirche Opfer von Verbrechen wurden und oft lebenslang unter den Folgen zu leiden haben, für sich, in ihrer Beziehungsfähigkeit, in ihrer privaten und beruflichen Entwicklung, in ihrem Vertrauen in Gott, ins Leben. Dieser Schuld müssen sich all jene stellen, die in der Kirche Verantwortung tragen, und auf allen Ebenen die nötigen Konsequenzen ziehen.

Systemische Probleme anerkennen und angehen
Der von der Studie erneut geforderte Perspektivenwechsel von Einzelfällen zur systemischen Betrachtung hat weitreichende Konsequenzen. Vor allem die Verantwortlichen in den Bistümern und Ordensgemeinschaften sind gefordert, systemische Probleme anzugehen und sich den damit verbundenen theologischen Fragen zu stellen. Themen sind die besonderen Machtkonstellationen in der Kirche, der Umgang mit Sexualität, das Priester- und damit verbunden auch das Frauenbild sowie die Ausbildungs- und Personalpolitik, welche künftige Seelsorgende in der Vergangenheit nur ungenügend bis gar nicht auf ihre professionelle Eignung im Umgang mit Menschen geprüft hat. Auch das Amtsverständnis der geweihten Amtsträger und die Aufsichts- und Führungsverantwortung in Bistümern, Ordensgemeinschaften und staatskirchenrechtlichen Behörden bedürfen angesichts dieser Realitäten der Korrektur und der Weiterentwicklung.

So kann der besonderen Verletzlichkeit vieler Menschen, die sich der Kirche anvertrauen, Rechnung getragen und verhindert werden, dass Verantwortungslosigkeit und mangelnde Professionalität weiter hingenommen oder sogar theologisch legitimiert werden. Und schliesslich stehen alle heute in der Kirche Tätigen in der Verantwortung, sich für einen nachhaltigen Kulturwandel einzusetzen und die verschiedenen Präventionsmassnahmen aktiv mitzutragen und umzusetzen.

Hinhören und hinschauen: weitere Massnahmen bereits beschlossen
Viele kirchliche Institutionen unternehmen bereits seit längerem Schritte, um das Geschehene aufzuarbeiten und dem Risiko von sexuellen Übergriffen präventiv zu begegnen. Das Pilotprojekt zeigt jedoch, dass noch sehr viel Arbeit ansteht. SBK, RKZ und KOVOS haben auf nationaler Ebene weitere Massnahmen beschlossen, mit denen die Aufarbeitung fortgesetzt wird und institutionelle Mängel angegangen werden:

1. Für Betroffene sollen schweizweit professionelle Angebote geschaffen werden, bei denen sie Missbräuche melden können: In den kommenden Monaten werden dafür verschiedene Modelle für eine gesamtschweizerische unabhängige Meldestelle für Betroffene sowie für Informantinnen und Informanten geprüft und danach deren Realisierung angegangen. Zudem sollen die bestehenden kircheneigenen Meldestrukturen von Fachleuten überprüft und anschliessend anhand gemeinsamer Standards weiterentwickelt werden.

2. Künftige Priester, ständige Diakone, Mitglieder von Ordensgemeinschaften und weitere Seelsorgende sollen im Rahmen ihrer Ausbildung standardisierte psychologische Abklärungen durchlaufen: Die Priesterseminarien, Noviziate und Ausbildungsstätten für Seelsorgende führen eine gesamtschweizerisch standardisierte psychologische Prüfung der künftigen Priester, ständigen Diakone, Mitglieder von Ordensgemeinschaften und weiterer Seelsorgenden ein.

3. Für die Führung von Personaldossiers und für die Weitergabe von relevanten Informationen über kirchliche Mitarbeitende werden Mindeststandards gemäss den geltenden Datenschutzgesetzen eingeführt: Diese richten sich an Bistümer, Ordensgemeinschaften, staatskirchenrechtliche Organisationen und andere kirchliche Anstellungsträger.

4. Die Mitglieder aller drei Auftraggeberinnen verpflichten sich zu neuen Grundsätzen im Umgang mit Missbrauchsakten: In einer schriftlichen Selbstverpflichtung erklären alle kirchlichen Verantwortlichen an der Spitze von Bistümern, Landeskirchen und Ordensgemeinschaften, keine Akten mehr zu vernichten, die im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen stehen oder den Umgang damit dokumentieren. Das bedeutet auch, dass die kirchenrechtliche Vorschrift, regelmässig Akten aus Archiven und Geheimarchiven zu vernichten (can. 489 § 2 CIC), für solche Akten nicht mehr angewendet wird.

5. Die Forschung wird in einem dreijährigen Folgeprojekt 2024–2026 weitergeführt: Bereits im Juni 2023 haben SBK, RKZ und KOVOS entschieden, die Zusammenarbeit mit dem Historischen Seminar der Universität Zürich fortzusetzen und ihm den Auftrag für ein weiteres Forschungsprojekt 2024–2026 im Umfang von 1,5 Mio. Franken zu erteilen. Die Verträge und ergänzende Informationen werden zum Projektstart am 1.1.2024 veröffentlicht.

Ressourcen für die Umsetzung der Massnahmen bereitgestellt
Für die Umsetzung haben SBK, RKZ und KOVOS für die Jahre 2024 bis 2026 Gelder im Umfang von 1,5 Mio. Franken für das Forschungsprojekt und 1 Mio. Franken für die weiteren beschlossenen Massnahmen eingestellt. Damit stehen ab nächstem Jahr zusätzliche finanzielle Mittel für Fachpersonen sowie für externe Beratung und Aufträge für die Umsetzung der beschlossenen Massnahmen bereit.

Für die Konkretisierung der Umsetzung werden SBK, RKZ und KOVOS noch vor Ende Jahr den Dialog mit den Betroffenenorganisationen suchen und die weitere Zusammenarbeit definieren.

Wir danken den Forschenden für ihre fundierte Untersuchung. Sie haben sich grossen Belastungen ausgesetzt und in kurzer Zeit und mit begrenzten Ressourcen enorm viel aus dem Dunkel ans Licht gebracht und eine wichtige Grundlage für die weitere Aufarbeitung geschaffen. Wir setzen uns dafür ein, dass sie ihre weitere Forschungstätigkeit unabhängig fortsetzen können und den im Pilotprojekt postulierten Zugang zu den notwendigen Archiven erhalten.

Weitere Informationen
Projektwebseite der Auftraggeberinnen:
www.missbrauch-kath-info.ch

Projektwebseite der Auftragnehmerinnen:
www.missbrauchkirchlichesumfeld.ch

 

Auskünfte
SBK: Bischof Joseph Bonnemain (Themenverantwortlicher)
RKZ: Renata Asal-Steger (Präsidentin)
KOVOS: Abt Peter von Sury (Themenverantwortlicher) und für die Westschweiz Daniele Brocca (Präsident)

Interessierte wenden sich an
medien[at]missbrauch-kath-info.ch oder 079 323 19 21.

 

Die Auftraggeberinnen
Schweizer Bischofskonferenz (SBK)
Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) ist das Koordinationsorgan der römisch-katholischen Bistümer der Schweiz und umfasst derzeit 9 Mitglieder: die Bischöfe der sechs Bistümer der Schweiz, deren Weihbischöfe sowie die beiden Äbte der Territorialabteien St-Maurice und Einsiedeln.
www.bischoefe.ch

Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ)
Die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) ist der Zusammenschluss der kantonalkirchlichen Organisationen. Sie besteht seit 1971 und ist als Verein organisiert. Sie trägt massgeblich dazu bei, dass die katholische Kirche ihre Aufgaben auf gesamtschweizerischer Ebene wahrnehmen kann, und setzt sich für demokratisches, solidarisches und unternehmerisches Handeln ein, das den Bedürfnissen des kirchlichen Lebens vor Ort Rechnung trägt.
www.rkz.ch

Konferenz der Vereinigungen der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz (KOVOS)
Die KOVOS (Konferenz der Vereinigungen der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz) will der Pluralität des gottgeweihten Lebens in der Schweiz in der Öffentlichkeit und innerhalb der Kirche ein Gesicht und eine Stimme geben. Dazu nutzt sie die sozialen Kommunikationsmittel und gezielte Veranstaltungen. Die KOVOS ist ein privatrechtlicher Verein mit Sitz in Fribourg.
www.kovos.ch

 

Zürich, 12. September 2023.