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Bistum Chur

Homilie Bischof Joseph Marias zu Karfreitag

Liebe Mitbrüder,
liebe Schwestern und Brüder

Die Worte des Propheten Jesaja in der 1. Lesung der heutigen Liturgie sind wie eine Ouvertüre des Dramas der Passion, die wir nun gehört und betrachtet haben. Die Schilderung des Propheten erklärt äusserst treffend den Sinn und das Ziel der Hingabe Christi am Kreuz: «Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.»

Die Kreuzigung des Herrn ist unsere Kreuzigung, das heisst: Durch ihn und mit ihm und in ihm wurde am Kreuz alles gekreuzigt, was uns vom Himmel trennt. Wenn wir in der Karwoche das Leiden des Herrn hören – einmal schon am Palmsonntag und heute wieder – dürfen wir nicht denken, dass es sich um eine lange und langweilige und bloss belastende Erzählung handelt, sondern um etwas, das in unserem Innern vollzogen werden sollte. Es geht nicht um die Worte. Diese sind nur wie eine Hintergrundmusik, wie Kulissen, damit jeder und jede sich besinnt und betrachtet, dass es sich in dieser Erzählung um den Vollzug unserer Erlösung handelt.

Am Anfang der Beschreibung der Passion im Johannesevangelium steht die Frage des Herrn: «Wen sucht ihr?» Als sie sagten: «Jesus von Nazareth», erwiderte er: «Ich bin es.» Er stellte nochmals dieselbe Frage. Die Antwort lautete nochmals: «Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Wenn ihr also mich sucht, dann lasst diese gehen!» Verstehen wir, was das bedeutet? Sie suchten eigentlich einen Schuldigen. Auf die Frage der Soldaten hätte Jesus eigentlich das Recht gehabt, zu antworten: Ich bin es nicht, diese hier, die mich begleiten, sind die Sünder, die Schuldigen, die Ungerechten. Er nimmt aber unsere Schuld auf sich: «Ich bin es.» Und da er sich für uns opfert, fügt er noch hinzu: «Lasst diese gehen!»

Im Ölgarten – vor seinem Leiden – erlebt Jesus im Gebet das Schweigen seines Vaters. Er betet, aber er erhält anscheinend keine Antwort. Er betet in der Nacht, im Dunkeln, er tappt im Dunkeln und es bleibt Nacht, inmitten der Nacht wird er verhaftet. Er ist allein, die Jünger schlafen. Und er bleibt allein, alle fliehen. Er erlebt mitten im Gebet nur Schweigen, Dunkelheit und Einsamkeit. All dies damit, dass wenn wir beten und den Eindruck haben, keine Antwort zu bekommen, im Dunkel zu tappen und allein zu sein, nicht aufhören, sondern getröstet werden und ausharren, genau wie Jesus. Er hat genauso die Härte des Gebetes auf sich genommen, damit auch wir im Gebet ausharren können. Er hat all das Bittere der Beziehung zu Gott ans Kreuz nageln lassen, damit dort das Schweigen seinen Kampf gegen uns verliert, damit dort die Dunkelheit ihren Kampf gegen uns verliert, damit dort die Einsamkeit ihren Kampf gegen uns verliert.

Liebe Brüder und Schwestern, Jesus betete ohne Antwort zu bekommen, damit wir im Gebet eine Antwort erhalten. Er betete im Dunkeln, damit während des Gebetes Licht in unseren Herzen aufgeht. Er betete in der Einsamkeit, damit wir im Gebet Gottes Geborgenheit erfahren können.

In der ganzen Passion geht diese Übernahme von all dem, was uns belastet, durch den Herrn weiter. Wenn wir hören, dass er gegeisselt wurde, sollten wir nicht einfach bloss zuhören. Es geht darum, zu entdecken, sich zu vergegenwärtigen, dass dort unsere Zwänge, unser Egoismus, unsere Arroganz, unsere Begierden gegeisselt werden. Wenn wir bedenken, dass er angespuckt, seiner Kleider beraubt und mit Dornen gekrönt, geohrfeigt wird, ist der Augenblick gekommen, zu meditieren, dass am Kreuz all das geohrfeigt wird, was in uns eine Ohrfeige verdient. Wir sollten einsehen, dass dort – am Kreuz – unser Hochmut mit Dornen gekrönt wird, dass wir dort von allen Entstellungen und von dem, was lächerlich ist, entkleidet werden. Am Kreuz wird unser alter Mensch gekreuzigt und getötet. Die Agonie des Herrn stellt die Agonie unserer Sünden dar. Die Bitterkeit des Essigs, die er kostete, verwandelt das Bittere in unserem Leben in einen köstlichen Geschmack, gibt unserem Leben den Geschmack der Kinder Gottes.

Im Herrn Geliebte, Jesus sagte bis zum letzten Augenblick: «Ich bin es.» Ich bin der, der alles aus Liebe auf sich nimmt, weil ich die Menschen liebe. Ich bin der Liebende, bis zum Schluss. Ich bin der Liebende, bis zur Vollendung. Das Zuhören der Passion darf uns nicht zu lange vorkommen. Es geht um unsere Existenz, es geht um unsere Erlösung, um unser Heil. Es geht darum, mit grösster Ergriffenheit zu realisieren, dass Jesus uns liebt, ohne Ende. Amen

 

Chur, 29. März 2024

Joseph Maria Bonnemain,
Bischof von Chur