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Bistum Chur

Homilie von Bischof Joseph Maria am Requiem für Bischof Vitus Huonder

Liebe Mitbrüder, liebe Schwestern und Brüder

Heute gedenkt die Kirche des hl. Papstes Leo IX. Die entsprechenden biblischen Texte passen meiner Ansicht nach sehr gut, wenn wir für einen verstorbenen Hirten des Bistums die Eucharistie feiern. Bevor ich aber diese biblischen Passagen näher beleuchte, möchte ich mich mit dem Leben des Verstorbenen auseinandersetzen. Vielleicht hilft es uns, seine Überlegungen und Entscheidungen einzuordnen.

Vitus Huonder hat im Jahr 2017 – er war also 75-jährig – im Rahmen eines Priestertages sein Leben und seine Berufung Revue passieren lassen. Er erzählte, wie er bereits als Kind schon sehr früh Pfarrer werden wollte. Die Teilnahme an der hl. Messe sei für ihn von klein auf ein himmlisches Ereignis gewesen, wie alles, was mit dem Glauben und dem Feiern des Glaubens zu tun hatte. Schon mit 6/7 Jahren beschäftigte ihn die Frage, heilig zu werden sehr. Wichtige Ereignisse in seinen jungen Jahren waren – so beschrieb er – die Heiligsprechung von Maria Goretti im Jahr 1950 und jene von Papst Pius X. im Jahr 1954. Als Mittelschüler in der Klosterschule Disentis genoss er das Chorgebet und lauschte unter der Empore der Klosterkirche dem Offiziumsgesang der Mönche. So entschloss er sich, selber Mönch zu werden. Er sagte anlässlich dieses Priestertages auch, dass diese Zeit im Kloster, eine Zeit der innigen Gottesbegegnung gewesen sei: Beten zu können und beten zu dürfen, sei ein unschätzbares Geschenk Gottes. Während all jenen Jahren fehlten aber auch Widrigkeiten und Rückschläge nicht – manche waren hart. Im Nachhinein meinte er: «Was hat der böse Feind nicht alles unternommen, um meine Berufung abzuwürgen». Ich wage zu sagen, sein Leben blieb immer von diesen beiden Seiten geprägt: Eine Sehnsucht nach einer heilen, unberührten, heiligen Welt und die Mühe, die Realität zu akzeptieren, eine Welt, die erlösungsbedürftig bleibt, anzunehmen. Nach der zeitlichen Profess schickte ihn das Kloster Disentis nach Rom, um dort weiter zu studieren. Es war 1965 ‒ die letzte Konzilsperiode. Der Lärm der Stadt setzte ihm sehr zu, genauso wie die teilweise abwegigen, wenig geistlichen Haltungen einiger Mitbrüder, aber noch viel mehr die theologischen Strömungen nach dem Konzil, die er später als Wiederaufleben des Modernismus beurteilte. Schliesslich entschied er sich, aus dem Kloster auszutreten. Sein Theologiestudium setze er in Fribourg fort, jedoch nicht mehr mit der Absicht, Priester zu werden. Nach einer plötzlichen Erleuchtung im Jahr 1970 war für ihn wieder klar, dass er Priester werden sollte. Er wurde am Hochfest des hl. Bruder Klaus, am 25. September 1971, in Thalwil zum Priester geweiht.

Im Anschluss doktorierte er in Fribourg. In jener für ihn unruhigen theologischen Studienzeit suchte er Halt in der Heiligen Schrift, vor allem im unmittelbaren Verstehen des Schrifttextes. Das Bibelstudium wurde seine Leidenschaft. Er war später federführend bei der Entstehung der Wortgottesfeier und des Romanischen Messbuches beteiligt.

Sein Unbehagen inmitten der theologischen Entwicklung unserer Zeit und der Öffnung der Kirche nach dem Konzil hin zur Welt blieb im Leben von Bischof Vitus eine Konstante. Zweimal wirkte er als Ortspfarrer, in Kilchberg und Egg ZH. Wirklich wohl fühlte er sich dabei nicht. Er schrieb: «In dieser Situation wurde ich von Neuem ein Suchender». Und weiter: «Oft kam ich auch in die Versuchung, mich aus dem Bistum zu verabschieden, und einer Bewegung beizutreten, welche sich ganz der Tradition verpflichtet wusste». Kurze Zeit war er Pfarrhelfer in Sachseln. Die kirchliche Situation in den Urkantonen des Bistums Chur betrachtete er ebenfalls als mit Spannungen beladen. Umso mehr suchte er Halt in alten Lehrschriften: Im Römischen Katechismus nach den Beschlüssen des Tridentinischen Konzils, im Katechismus des hl. Papstes Pius X., usw. Anschliessend suchte er Zuflucht im akademischen Bereich und habilitierte über die Psalmen in der Liturgia Horarum. 1990 wurde er von Bischof Wolfgang Haas zum Generalvikar für die Bistumsregion Graubünden, Fürstentum Liechtenstein und Glarus ernannt. Die für ihn zu belastende Situation im Bistum brachte ihn dazu, im Sommer 1992 seine Demission einzureichen. Sein Hadern mit der Welt und der kirchlichen Gegenwart war spürbar. 1998 wurde er von Bischof Amédée Grab erneut zum Generalvikar für die Bistumsregion Graubünden ernannt. Nach der Emeritierung von Bischof Amédée kam dann, im Jahr 2007, seine Wahl zum Bischof von Chur. Rückblickend meinte er, es wäre eine schwierige Wahl gewesen, die er aber aufgrund des Vertrauens des Papstes annahm. Er hielt fest: «Die äusseren Umstände meiner Amtszeit waren wirklich eine grosse Belastung». Der Suchende nach einer geschützten, heilen und abgeschiedenen Welt fand nach seiner eigenen Emeritierung schliesslich Ruhe bei der Priesterbruderschaft des hl. Pius X. in Wangs, und in einer vorkonziliaren, ritualisierten und genau vorgeschriebenen Liturgie, wie er sie aus seiner Kindheit kannte und schätzte. Wir kennen alle seinen Entschluss, in Ecône, in der Nähe von Msgr. Marcel Lefebvre begraben zu werden. Ich würde dies alles als eine letzte Beheimatung, in einer heilen Welt seiner Vorstellungen bezeichnen.

Im Buch des Propheten Ezechiel finden wir Schafe, Menschen, die sich verirrten, zerstreut wurden und sich nach Sammlung sehnen, nach fetten Weideplätzen, nach Heimat und Wohlgefühl. Gott kümmert sich um sie, als guter Hirt. Unser Erlöser und Heiland, der einzige, wahrhaft gute Hirte, hat für uns sein Leben hingegeben. Aber nicht, um uns in einer heilen Welt ‒ geschützt vor der gefährlichen Welt ‒ abzusondern, sondern damit wir, mitten in unserer Welt, wie sie ist, in der Kirche, hier und heute, dank seiner Liebe und Freundschaft mit unserem Leben und unseren Taten Verkündende des Heils sein können. Wir sind heute hier ‒ Bischöfe, Priester und viele Gläubige. Jede und jeder von uns ist in seiner spezifischen Funktion, in seinem bestimmten Amt, in seiner Aufgabe und durch einen eigenen Ruf einerseits dazu berufen, Hirte der anderen zu sein, um die anderen auf gute Weiden zu führen. Andererseits ist jede und jeder von uns gleichzeitig verirrt, zerstreut, verletzt, entmutigt, hungrig nach Liebe. Es ist entscheidend, dass wir alle eine echte, synodale Kirche bilden. Eine Kirche, in der wir uns alle gegenseitig sagen: Du bist kein Knecht, du bist mein Freund, meine Freundin, ihr seid meine Geschwister im Glauben, ich bin gerne bereit, mein Leben für euch einzusetzen. Die Kirche kennt eine Hierarchie, es gibt verschiedene Ämter und Aufgaben, aber es gibt gleichzeitig ein gemeinsames Priestertum aller Gläubigen und ich würde sagen, ein gemeinsames Hirtentum. Wenn wir so die Geschwisterlichkeit und die Synodalität leben, brauchen wir keine Angst vor der Heidenwelt zu haben, sondern spüren vielmehr die Freude, für diese Welt, in dieser Welt und mit dieser Welt in die ewige Heimat unterwegs zu sein.

Wir hoffen und beten, dass Bischof Vitus nun die ewige Heimat erlangen konnte und sie bereits geniesst. Der Suchende möge schlussendlich die Antwort und die Schau erlangt haben. Ich würde gerne wissen, ob das Heile und Heilige so aussieht, wie er es sich vorgestellt hat. Auch unsere Vorstellungen könnten alle einmal verblassen, angesichts der Realität. Aber etwas können wir jetzt schon erahnen: Der Himmel ist nichts anders, als die apotheotische Verwirklichung des Auftrags des Herrn: «Liebt einander, wie ich euch geliebt habe».

Chur, 19. April 2024

Joseph Maria Bonnemain,
Bischof von Chur