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Bistum Chur

Homilie von Bischof Joseph Maria in der Osternacht

Liebe Mitbrüder, liebe Schwestern und Brüder

Die Frauen gingen in aller Frühe zum Grab mit wohlriechenden Salben, die sie zubereitet hatten. Diese Salben waren Ausdruck ihrer Liebe, ihrer Verbundenheit mit Jesus, aber auch Symbol für all das, was sie niederdrückte, belastete, schmerzte. Diese liebevoll vorbereiteten und wohlriechenden Salben waren nämlich gedacht, vorgesehen, um den leblosen Leib Jesu pietätsvoll für die letzte Ruhe des Todes herzurichten. Zugleich hatten sie sich auch damit abgefunden – zusammen mit dem Leib des Herrn – ihre Erwartungen, ihre Hoffnungen zu begraben. Der, der selber Tote auferweckt hatte, Kranke geheilt, Blinden das Augenlicht zurückgegeben, Besessene befreit, Lahme zum Gehen gebracht, lag tot und damit auch ihre Erwartung auf eine grundsätzliche Veränderung. Alles würde wie vorher in der gewohnten Art weitergehen, im alten Stil. Sie rechneten überhaupt nicht mit der Auferstehung des Herrn.

Die Frauen hatten die wohlriechenden Salben vorbereitet gemäss ihren Traditionen; dies gehörte zum ehrfurchts- und achtungsvollen traditionellen Umgang mit dem Leichnam eines Verstorbenen. Der Vorgang gehörte zu den Traditionen, Ritualen, Vorschriften und Bestimmungen des gläubigen jüdischen Volkes.

Und plötzlich hören die Frauen: «Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?» (Lk 24,5). Etwas total Unerwartetes, etwas, das alle Vorstellungen überstieg, hatte anscheinend stattgefunden. Sie gingen sofort weg, um die Nachricht den Aposteln zu bringen.

Die wohlriechenden Salben blieben bestimmt dort am Grab liegen. Sie hatten ihre ganze Wichtigkeit und Bedeutung verloren. Die Nachricht des Lebens übertönte alles andere.

Im Herrn Geliebte, wir sind im Leben oft mit Problemen, Sorgen und Niederlagen konfrontiert. Es gibt verschiedene Dinge, die uns bestimmt lange und stark beschäftigen, Ziele und Projekte, die wir als sehr wichtig und vital betrachten. Es gibt Pläne, für die wir viel investiert haben. Die Gegenwart des Herrn in unserem Leben, dass der Lebende uns schlechthin begleitet und liebt, ja, der sozusagen unseretwegen gestorben und auferstanden ist, ermöglich und bringt mit sich, sollte mit sich bringen, dass alles andere verblasst: Träume, Projekte, Errungenschaften, Tränen und Schmerzen, Berühmtheit und Einsamkeit, Kämpfe und Niederlagen, Erfolge und Prestige, alles wird im Nu unbedeutsam, eine sympathische Lebensanekdote. Wenn wir dem Auferstandenen wirklich im eigenen Leben begegnen, erleben wir eine gewaltige Befreiung. Man kann dann alles liegen und stehen lassen, wie damals die wohlriechenden Salben am Grab liegen blieben.  Es ist eine ähnliche Situation wie damals am Jakobsbrunnen. Die Samariterin – nachdem sie gehört hatte, dass Jesus ihr sagte: «Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fliesst» ( Joh 4, 13-14) stellte sie fest, dass alles in ihrem Leben nur halb so wichtig war und sie «liess ihren Wasserkrug stehen, kehrte zurück in die Stadt» (Joh 4, 28), um allen die Botschaft des Messias zu verkünden.

Im Herrn Geliebte, die lebensverwandelnde Gegenwart des Auferstanden kann in unserem Leben alles neu machen – immer wieder.

Den Auferstandenen finden wir nicht in toten alten Geschichten. Den Auferstandenen finden wir nicht in einer Kirche, in der Gewohnheiten, Vorschriften und die gewohnte Organisation den Vorrang haben. So wie Papst Franziskus oft anschaulich sagt: wir können das Leben nicht in einer musealen Kirche, in der alles konserviert wird, finden – natürlich in wohlriechenden Salben.

Die Botschaft von Ostern heisst nicht zuletzt: sucht Jesus nicht in toten, alten und altgewordenen Vorstellungen. Jesus lebt! Mit ihm ist in der Welt das Leben, die Liebe, die wahre Gottesanbetung entstanden. So wie Jesus es auch der Samariterin sagte: Gott wird im Geist und in der Wahrheit angebetet (vgl. Joh 4, 23). Das ist das Entscheidende.

Jemand könnte heute Nacht erwidern: aber Jesus hat gesagt, dass er nicht gekommen sei, das Gesetz und die Propheten aufzuheben – nicht einmal ein Jota oder ein Häkchen. Das stimmt. Aber er hat hinzugefügt: ich bin nicht gekommen um aufzuheben, sondern um zu erfüllen (vgl. Mt 5,17-18). Diese Erfüllung bedeutet Fülle, Inhalt, Sinn, Bedeutung. Jesus hat zustande gebracht, dass alles, was Gefahr läuft museal zu werden, Leben und Dynamik, Vitalität und Sinn erfährt. Wenn ich sage, dass Jesus nicht in einer musealen Kirche anwesend ist, stelle ich nicht alles in Frage, was Treue und Tradition ist. Was erstickend ist, ist Treue und Tradition mit leeren Hülsen zu verwechseln – wenn also nur noch starre Leinenbinden liegen bleiben. Die wirklichen Leinenbinden, die Leinenbinden des Herrn sind Trägerinnen und beinhalten das Leben des Auferstandenen. Es gilt, alle Traditionen und Riten zu beleben, stets zu erneuern, um mit der Treue und Zärtlichkeit von Lieben und Verliebten zu füllen.

Alle, die heute getauft werden, dürfen die Gewissheit haben, dass Christus in unserer lebendigen Kirche gegenwärtig ist, dass sie ihn stets in einer erneuten und kohärenten Kirche immer werden finden können. Amen.

Kathedrale Chur, 16. April 2022