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Bistum Chur

Nach dem Willen Gottes fragen und danach leben

Von Bischof Vitus Huonder

Das Nachsynodale Apostolische Schreiben Amoris Laetitia spricht nicht nur über Fragen der Ehe und der Familie. Es berührt kurz auch das Thema der Jungfräulichkeit (158-162). Die Jungfräulichkeit ist eine Form der Liebe.Die Jungfräulichkeit ist ein Ausdruck der Liebe als ἀγά-π­η, als charitas, der Höchstform der Liebe, der göttlichen Liebe. Das Apostolische Schreiben sagt dazu: „Als Zeichen erinnert sie uns an die vorrangige Bedeutsamkeit des Gottesreiches, an die Dringlichkeit, sich vorbehaltlos dem Dienst der Verkündigung zu widmen (vgl. 1 Kor 7,32). Zugleich ist sie ein Abglanz der Fülle des Himmels, wo ‘die Menschen nicht mehr heiraten [werden]’ (Mt 22,30)“ (159­).

        Vertiefen wir diesen Gedanken. Die Jungfräulichkeit ist eine Form der Liebe. Sie ist ein besonderer Ausdruck der Liebe. Warum? Die Jungfräulichkeit im christlichen Verständnis ist ein Ausdruck der Liebe der Fülle der Zeiten. Die Jungfräulichkeit ist ein besonderer Ausdruck der Liebe, weil sie in der Lebensform Jesu ihr Vorbild hat, in der Lebensform, welche Jesus zu unserem Heil gewählt hat. Jesus selber ist der jungfräuliche Mensch und der Anfang der Jungfräulichkeit um des Himmelreiches willen. Jesus ist der jungfräuliche Mensch schlecht­hin. Das Ideal der Jungfräulichkeit gründet in seiner Person. Die Jungfräulichkeit ist daher auch das Zeichen der Nachfolge Christi, der Nachfolge Christi im engeren Sinn: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,26). Dabei geht es nicht um die Frage einer angeblichen Minderwertigkeit der Ehe oder einer angeblichen Überlegenheit der Jungfräulichkeit. Es geht um die Frage der Berufung durch Gott sowie der Heilsordnung, welche Gott veranlasst.   

        Die Jungfräulichkeit betrifft auch die priesterliche Existenz. In der lateinischen Kirche lebt der Priester ehelos, enthaltsam und keusch. Der Priester begibt sich so in die enge Nachfolge Jesu. Er soll nicht nur – so der Wille der Kirche, und dieser Wille hat sein eigenes Gewicht – er soll nicht nur den Auftrag Jesu erfüllen. Er soll Jesus bis in seine Lebensweise nachahmen und darstellen. Er soll ein Abbild Jesu sein. Er soll sich, wie Paulus es sagt, um die Sache des Herrn kümmern, „um heilig zu sein an Leib und Geist“ (1 Kor 7,34). Damit umschreibt der heilige Paulus die Ganzhingabe an den Herrn. Denken wir Priester daran und bemühen wir uns, dass wir in jeder Hinsicht dieser hohen Erwartung nachleben. Wir dürfen diesbezüglich nicht zum Ärgernis werden. Vielmehr soll unser Leben als Leben in der engen Nachfolge Christi die Gläubigen erbauen und im Glauben bestärken. Es darf nicht so sein, wie im Apostolischen Schreiben gesagt wird: „Der Zölibat läuft Gefahr, eine bequeme Einsamkeit zu sein, welche die Freiheit gewährt, sich selbstbestimmt zu bewegen, Orte, Aufgaben und Entscheidungen zu ändern, über das eigene Geld zu verfügen, je nach der Attraktion des Momentes Kontakte mit verschiedenen Menschen zu pflegen“ (162). Allerdings, um gerecht zu sein, muss man hinzufügen: Diese Gefahr läuft der zölibatär lebende Mensch, diese Gefahr läuft aber auch der nicht zölibatär lebende Mensch, gefördert durch die heutige Mentalität des Lebensgenusses. Auch Eheleute können davon betroffen sein.

        Nun, der Priester soll diese Gefahr nicht laufen – und wird sie nicht laufen. Er wird dieser Falle entgehen durch das Gebet, durch die ständige Vereinigung mit Christus im heiligen Messopfer, durch den Glau­bensgehorsam, durch die Bescheidenheit, durch die Demut. Üben wir uns immer wieder in diesen Tugenden und erbitten wir die Kraft dazu jeden Tag vom Herrn, um dessen Sache wir uns, wie es der heilige Paulus sagt, kümmern – und gerne kümmern. Der Herr seinerseits wird sich, wenn wir nach seinem Vorbild wandeln, auch um unsere Sache kümmern, so dass uns seine Gnade genügt (vgl. 2 Kor 12,9).

        Werfen wir nun einen Blick auf das heutige Evangelium. Der heilige Lukas spricht von der Jungfrau – nicht von der jungen Frau, sondern wirklich von der Jungfrau. Und er weiß, wovon er spricht: “Der Engel Gabriel wurde … zu einer Jungfrau ge­sandt” (Lk 1,26-27). Damit betont Lukas, dass Maria Jungfrau war, als sie Jesus durch die Kraft des heiligen Geistes empfing. Die Empfängnis des Sohnes Gottes ist mit anderen Worten ein Wunder, ein Geschehen, dass über die Ordnung der Natur hinausgeht und nur von Gott ermöglicht werden kann.

        Von dieser Jungfrau sagt der Evangelist: “Sie war mit einem Mann namens Josef verlobt” (Lk 1,27). Zur Zeit Jesus war die Verlobung im jüdischen Volk streng geregelt. Die Zeit der Verlobung war eine Zeit der geistigen Vorbereitung auf die Ehe. Wohl wurde die Tochter vom Vater dem zukünftigen Mann angetraut. Daher unterstand sie vor dem Recht dem Bräutigam. In dem Sinn war sie schon seine Frau. Es gab aber noch kein gemeinsames Leben. Die Tochter stand immer noch unter der Obhut und Fürsorge des Vaters. Sie lebte im Haus des Vaters und bereitete sich dort innerlich über ein Jahr lang auf das eheliche Leben vor. Dann erst holte sie der Bräutigam zu sich, und es begann für die Brau der eheliche Alltag im neuen Heim.

 So befindet sich Maria im Augenblick, da der Engel ihr erscheint – so übrigens auch nach dem Evangelisten Matthäus – in jener Lebensphase, da sich die junge jüdische Frau auf die Ehe vorbereitet. Das bedeutet selbstverständlich, dass sie in strenger Jungfrauschaft lebt. Mitten in dieser Vorbereitung trifft sie der Anruf Gottes durch den Engel: “Du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben” (Lk 1,30-31). In diesem Augenblick erfährt Maria, dass sie zur Jungfrauschaft um des Himmelreiches willen berufen ist. Wohl soll sie, da sie Josef bereits angetraut ist, unter seiner Fürsorge leben und auch den damaligen jüdischen Rechtsschutz einer Ehefrau erfahren. Aber in dieser rechtlich genau definierten Gemeinschaft bleibt sie ihrem Mann entzogen, um ganz für Gott da zu sein, indem sie den Sohn Gottes zur Welt bringt und ihr Leben ganz für ihn hingibt.

Die selige Jungfrau und Gottesmutter Maria ist der erste Mensch, welcher von Gott dem Vater für den Sohn in den Stand der Jungfräulichkeit berufen wird. Maria erkennt diese Stunde ihrer besonderen Berufung, diese Stunde der Gnade und übergibt sich vorbehaltlos dem Herrn: “Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast” (Lk 1,38). Das ist nicht nur eine Ja zum göttlichen Kind, das der Heilige Geist in ihr Gestalt annehmen lässt. Das ist ein Ja zu ihrem eigenen Leben, das nun Ganzhingabe an den Willen Gottes bedeutet, Leben in gottergebener Jungfrauschaft, wie Paulus es ausdrückt: „Die unverheiratete Frau und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, um heilig zu sein an Leib und Geist“ (1 Kor 7,34). 

Wohl hat Maria als Gottesmutter eine besondere, einmalige Berufung. ­Insofern sie aber den Willen Gottes angenommen und erfüllt hat, ist sie ein Vorbild für uns alle. Sie lehrt uns auf diese Weise, nach dem Willen Gottes zu fragen und diesem Willen gemäß zu leben. Vor allem sollen wir daran denken, dass sie als Mutter der Kirche ein besonderes Herz hat für die Priester.

(Predigt zum Churer Priestertag am 12.09.2016)