Lieber Abt Urban, liebe Klostergemeinschaft
Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder
«Wo bist du?» Diese Frage Gottes kann man verschieden interpretieren, deuten. Es kann bedeuten: Warum bist du nicht dort, wo du sein solltest? Dort, wo ich dich erwarte? Du hättest auf mich warten sollen. Warum bist du immer unpünktlich, zerstreut? Wieso finde ich dich immer am falschen Ort?
Die Frage kann aber auch als Ausdruck der Zuneigung, des Interesses, der Liebe verstanden werden, im Sinne: ich suche dich, ich brauche dich, ich habe mich für dich entschieden und bin zu dir gekommen. Ich will mit dir sein. Ich möchte mit dir gemeinsam den Weg gehen, unterwegs mit dir bleiben.
Ich bin überzeugt, dass die Frage an Adam im Munde Gottes die dauernde Frage an uns Menschen ist und zwar im zweiten Sinn. Gott sucht uns, Gott sucht uns stets, nicht um uns zu kontrollieren, zu tadeln, um uns zu sagen, was wir falsch machen, sondern weil er uns gern hat, weil er mit uns sein möchte, weil er das Unsere teilen will, weil er sich in Christus entschlossen hat, einer von uns zu sein, weil er Eins werden möchte mit all unseren Belastungen, Sorgen, Mühen, Niederlagen, mit dem Unangenehmen und dem Schönen, das wir erleben, weil er Leid und Freud mit uns teilen will. Sein Einswerden mit uns hat nur einen Sinn: nämlich uns das Leben in Fülle zu ermöglichen.
Wir haben vorher die Worte des Engels an Maria gehört: «Der Herr ist mit dir!» Diese Botschaft gibt genau wieder, was wir bis anhin betrachtet haben: Gott will endgültig in uns und mit uns Menschen sein. Der Mensch ist Familie Gottes geworden. In Maria und durch Maria ist der göttliche Sohn sozusagen auch unser Sohn geworden.
Im Herrn Geliebte, die Frage Gottes muss uns immer bewegen, wachrütteln: Wo bist du? Vor dieser Frage dürfen wir uns nicht fürchten, sondern uns dazu berufen fühlen, in einem Bund der Liebe zu leben.
Als Gott Adam suchte, versteckte er sich, geriet in Furcht, weil er sich nackt fühlte. Maria fürchtete sich auch, aber in einem ganz anderen Sinn. Es war Ehrfurcht gegenüber der Grösse Gottes, dies aber geschieht in völliger Offenheit und Bereitschaft. Sie versteckte sich nicht. Im Gegenenteil: sie versuchte zu verstehen, was die Botschaft Gottes bedeutet und wie sie den Plan Gottes erfüllen konnte. Das Bewusstsein ihrer Armseligkeit vor Gott, das Nacktsein vor ihm, von Gott durch und durch erkannt zu werden, erweckte in ihr nur Bereitschaft und Verfügbarkeit.
Wenn wir die Reaktion Adams und die Reaktion Marias vergleichen, können wir besser verstehen, das, was wir heute feiern, nämlich: die Unbefleckte Empfängnis Marias. In Maria war seit dem Augenblick ihres menschlichen Daseins kein Vorbehalt Gott gegenüber, kein Misstrauen. Das, was wir als Ursünde und Erbsünde bezeichnen, ist nichts anderes als das Urmisstrauen den Plänen Gottes gegenüber. Damit durch die Menschwerdung Christi endgültig der Bund Mensch-Gott verwirklicht werden konnte, brauchte man einen Menschen, der restlos von diesem Misstrauen geheilt war. Maria war offen, bereit, empfänglich, vorbehaltlos, vertrauensvoll, so konnte die Geschichte unserer Erlösung Fuss fassen. Ich sage gerne: Maria war für die Gottesliebe unkontaminierte Erde, damit Gott auf unserer Erde landen, Fuss fassen konnte.
Liebe Schwestern und Brüder, es gibt eine gute Furcht und eine schlechte Furcht. Was entdecken wir in unseren Herzen?
Es gibt eine gute Art, Fragen zu stellen, auch Gott gegenüber, ja vor allem Gott gegenüber im Sinne: ich möchte besser verstehen, wie ich Gottes Willen verwirklichen kann. Im Sinne von Vertrauen, Offenheit, Empfänglichkeit, Bereitschaft, etc. Wie soll das geschehen, damit ich es verwirklichen kann? Und es gibt eine schlechte Art, Fragen zu stellen, als Vorbehalte, Einwände, als Zögern, als Mangel an Bereitschaft. Wie steht es bei uns?
Es gibt eine schlechte Art, sich vor Gott nackt zu fühlen, im Sinne: nicht zugeben, dass wir armselig sind oder im Sinne, sich als selbstgenügsam zu verstehen, sich autonom verwirklichen zu wollen. Es gibt aber auch eine andere, wunderbare Art, sich als Magd Gottes zu erkennen, in der Bereitschaft, die eigene Schwäche durch seine Grösse ausgleichen zu lassen, überzeugt, dass bei ihm nichts unmöglich ist. Die Geschichte der Erlösung der Menschheit setzt sich fort, dank Menschen, die, wie Maria, auf die Frage: Wo bist du? antworten: mir geschehe, wie du es gesagt hast, da bin ich, fiat, es geschehe.
Die Heilspläne Gottes auf Erden – Gott hat nur Pläne des Heils, des Friedens, der Geschwisterlichkeit – werden nur durch marianische Menschen fortgesetzt. Heute ist ein wunderbarer Tag und jeder Tag des Lenes ist ein solcher, um auf die Frage Gottes: Wo bist du? zu antworten: da bin ich. Amen
Einsiedeln, 8. Dezember 2023