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Bistum Chur

Predigt von Bischof Joseph Maria zu Allerheiligen

Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder

Teilhabe der Heiligen am synodalen Prozess
Aus der Offenbarung des Johannes wurde uns die grosse Schar – angrenzend an die Unendlichkeit – vor Augen geführt, die niemand zählen kann. Diese vorläufig nicht sichtbare Realität gehört wesentlich zur Kirche und deswegen zum gegenwärtigen synodalen Prozess der Kirche. Es geht um eine kirchliche Entwicklung. Und die Glieder dieser Schar sind vielmehr Kirche als wir. Wir sind Kirche im Anfangsstadium, sie sind Erfahrene der Kirchlichkeit, sie sind Profis, Hauptglieder der Kirche. Deswegen wäre es unverzeihbar, wenn wir sie nicht in den synodalen Prozess einbinden würden.

Papst Franziskus unterscheidet im synodalen Prozess drei Phasen:

Einander zuhören, unterscheiden und schliesslich entscheiden. Man kann nicht sagen, dass ein Schritt wichtiger als ein anderer wäre. Alle drei sind für einen echten synodalen Prozess wesentlich.

Austausch mit den Heiligen
Kommen wir zuerst auf den Schritt «einander zuhören» zu sprechen: Wir müssen aus tiefster Überzeugung – nicht nur pro forma – bereit sind, die Beiträge der anderen zu beherzigen. Nur so können wir gemeinsam erfahren, was Gott der Kirche sagen möchte. In diesem Dialog ist die grosse Schar der Heiligen voll und ganz beteiligt. Sie hören uns stets gut zu. Ob wir ihnen ebenfalls gut zuhören, bleibt für mich eine unbeantwortete Frage? Wir sollten die Sprache ihres Lebens, ihre Beispiele, ihre Biografien beherzigen. Wir sollten uns fragen: Wie waren sie Kirche? Sie haben teilweise dunkle, grausame Perioden der Kirche erlebt, welche sie aber gut gemeistert haben. Sie erlaubten keine vernichtende Kritik, sondern wählten stets den Weg der geschwisterlichen Ermahnung. Sie haben vor allem und zuerst von sich selbst mehr abverlangt als von anderen. Der klassische Spruch kommt mir immer wieder in den Sinn: «Ungeduld bringt Häretiker hervor, Geduld hingegen Heilige.» Die Heiligen haben bestimmt nie vollends die Nerven verloren. Ich höre manchmal, dass einige Gläubige keine Geduld mehr haben, auf Veränderungen in der Kirche nicht mehr warten können. Ich denke, das entspricht nicht dem Beispiel der Heiligen. Sie haben trotz allem und bis zuletzt die Kirche geliebt, sie haben sich nie von ihr distanziert oder getrennt. Was ich hier und heute sage, soll nicht als Rechtfertigung verstanden werden, nichts zu unternehmen, sondern als Aufforderung, die Heiligen am synodalen Prozess teilhaben zu lassen. Es geht um ihr Vermächtnis und die Erinnerung an ihre Kirche. Im Dialog mit ihnen werden wir besser verstehen, wie wir das erreichen, was wir alle sehnsüchtig erwarten.

Die Heiligen als Experten der Unterscheidung beiziehen
Nachdem wir in der Kirche viel besprochen haben, Ziele festgehalten und Veränderungen beschlossen haben, geht es jetzt darum, sich zu fragen: Was von all dem führt uns zum Ziel? Es geht um die Gabe der Unterscheidung – il discernimento, auf Italienisch. Seit Wochen spricht Papst Franziskus anlässlich seiner Mittwochsaudienz über die kostbare Gabe der Unterscheidung. Die Kirche und alles, was wir darin unternehmen, ist nie Selbstzweck. Sie hat eine Sendung. Das kommt im heutigen Evangelium wunderbar zum Ausdruck. Es geht um die Seligpreisungen. Es geht um einen alternativen Lebensstil, anders als der der Welt, der einzige, der die Welt zu verändern vermag. Sicher müssen wir uns im Rahmen des synodalen Prozesses auch mit strukturellen Fragen auseinandersetzen. Die Hauptfrage bleibt aber: Wie können wir einen Dienst am Heil, an der Erfüllung, am Glück, an der Freude aller Menschen leisten – auch jener Menschen, die ganz anders denken als wir? Es geht darum, Frieden zu stiften, um Barmherzigkeit, um die Befreiung von Selbstzentriertheit – welche die wahre christliche Armut darstellt –, um Sanftmut, um ein für die Liebe freies Herz, um den Einsatz für die Gerechtigkeit und vieles mehr. Wir sind, wie der Herr sagt, das Salz der Erde und das Licht der Welt. Die Kirche kann sich nur rechtfertigen, wenn sie für die Menschen einen Weg in den Himmel ermöglicht. Einen, der für alle zugänglich ist. Vor Kurzem habe ich den Wunsch geäussert, ein lebendiges und wagemutiges Bistum zu werden. Einige haben darauf reagiert und gemeint, man sollte das an der Bereitschaft messen, kühne, strukturelle Veränderungen zu wagen. Hier hilft uns wiederrum die Verbundenheit mit den Heiligen sehr. Ihr Wagemut bestand vor allem darin, apostolische, missionarische Christinnen und Christen zu sein. Sie haben sich selbst vergessen und haben sich für die Menschen, für die Verkündigung der Frohbotschaft engagiert – dank der Glaubwürdigkeit ihres eigenen Verhaltens.

Wie die Heiligen entscheiden
Darf ich noch über den dritten Aspekt, «das Entscheiden», etwas sagen? Ist es nicht so, dass sich die Heiligen im Grunde für die Nachfolge Christi, für ihr Eins-Werden mit ihm entschieden haben?

Die Heiligen sind jene, die bis zuletzt von der Hoffnung getragen wurden, so heilig zu sein, wie der Sohn Gottes. Sie sind Kinder Gottes in Jesus Christus geworden, wie die heutige Lesung aus dem Johannesbrief darlegt. Jesus ist der Erstgeborene des Vaters; durch, mit und in ihm erreichen wir die Sohnschaft. Unser vertrauter Umgang mit ihm kann dies ermöglichen. Die Heiligen sind Betende. Wie Papst Franziskus vor Kurzem sagte: «Es gibt keine Synode ohne Gebet». Wenn wir den synodalen Prozess voranbringen wollen, sollte unsererseits die Bereitschaft nicht fehlen, beschauliche, kontemplative, mystische Christinnen und Christen zu sein.

Der diözesane, synodale Prozess
Wir haben in unserem Bistum bereits einige Schritte getan, um die Synodalität umzusetzen, ohne auf die Ergebnisse der Weltsynode zu warten, welche voraussichtlich Ende 2024 zum Abschluss kommen wird. Wenn wir die Synodalität im Sinne des heutigen Hochfestes verstehen, das heisst, wenn wir das Beispiel der Heiligen vor Augen haben und stets das Zwiegespräch mit ihnen pflegen, um uns für das zu entscheiden, wofür sie sich entschieden haben, brauchen wir auf nichts zu warten, sondern können schon jetzt den synodalen Prozess entschlossen voranbringen. Amen.

Bischof Joseph Maria Bonnemain
Chur, 1. November 2022