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Bistum Chur

Predigt von Bischof Joseph Maria zu Allerseelen

Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder

Wir haben eine Lesung aus dem Alten Testament, eine aus dem Neuen und aus dem Evangelium nach Johannes die Erzählung gehört, die besagt, dass Jesus nach dem Tode seines Freundes Lazarus nach Betanien ging und von den Schwestern des Verstorbenen empfangen wurde. Ich möchte jeweils einen Aspekt bzw. eine Aussage aus allen drei Texten hervorheben.

Im Buch der Makkabäer werden das Beten und die Sühne für die Verstorbene gelobt und empfohlen. Das gibt uns Auskunft über die Zeit und den Raum überdauernden Dimensionen der Kirche. Die Gemeinschaft der Heiligen beschränkt sich nicht auf irdische, zeitbegrenzte Dimensionen. Durch den Glauben und vor allem durch die Liebe, die uns mit Christus verbindet, sind wir mit allen Gliedern des Leibes Christi, des Volkes Gottes, verbunden.

 

Wir vermissen unsere lieben Verstorbenen – was menschlich begreiflich ist – im Grunde genommen müssen wir sie aber nicht vermissen. Sie sind nur heimgegangen und uns daher gewissermassen näher als vorher. Das Gespräch mit ihnen ist immer noch ohne weiteres möglich.

Wenn wir hier auf Erden untereinander kommunizieren, wird unsere zwischenmenschliche Kommunikation nicht selten durch allerlei Faktoren erschwert und manchmal sogar verhindert. Daraus entstehen Missverständnisse, Blockaden, Enttäuschungen, Unterbrechungen, Belastungen. Wenn wir aber mit den Seligen, den Engeln und Heiligen das Gespräch suchen und die Vertrautheit pflegen – noch viel mehr mit Gott – sind alle diese Schwierigkeiten nicht vorhanden. Unsere Liebsten im Jenseits bleiben uns sehr nah, wir können viel für sie tun – was uns die Kirche am heutigen Gedenktag besonders in Erinnerung ruft – und sie wiederum können auch für uns viel tun – und zwar direkt Fürbitte halten. Nicht nur heute, an Allerseelen, ist ein guter Tag, ihrer zu gedenken. Wir sollten diese Verbundenheit und Freundschaft immerwährend pflegen, das ganze Jahr über. Sie gehören zu uns und wir gehören zu ihnen. Kirche sein, bedeutet, die Dimensionen von Zeit und Raum zu sprengen.

 

Die Einladung des Hl. Paulus an die Christgemeinde in Thessalonich ist ganz klar. Die von Paulus dargelegte Sichtweise ist, meiner Ansicht nach, eng mit der vorherigen Überlegung verbunden. Wir dürfen und sollten um den Verlust unserer Liebsten nicht trauern, als ob wir keine Hoffnung mehr hätten. Wenn unsere Beziehung zu ihnen und ihre Beziehung zu uns heute ungestört und tiefer sein kann als früher, wenn wir überzeugt sind, dass es ihnen im Himmel gut geht, warum sollten wir dann trauern? Es ist nur menschlich, wenn wir ihre physische, sichtbare und mit den Sinnen feststellbare Nähe vermissen. Ja eigentlich trauern wir oft um uns selbst, wir beklagen unseren Verlust und Schmerz. Siegt die Liebe aber, dürfen wir sehr froh sein, dass sie vor uns heimgegangen sind – für sie. Ja, sie haben den Lauf vollendet, das Ziel erreicht, die Krone des Lebens erhalten. Das ist die zentrale Frage unseres Glaubens. Es geht um den Glauben an die Auferstehung Christi, wie es auch Paulus betont. Wenn wir glauben, dass Jesus von den Toten auferstanden ist, dann dürfen wir konsequenterweise glauben, dass auch alle, die mit ihm verbunden sind, leben und die Fülle des Lebens erfahren werden. Das tröstende Wort sagt ganz klar: «Dann werden wir immer beim Herrn sein!», was zugleich bedeutet, dass wir alle zusammen, wiedervereint sein werden. Die physische Trennung ist nur vorübergehend. Nochmals, das Leben in Christus sprengt Raum und Zeit. Wir werden erleben, wovon wir immer geträumt haben und wonach wir uns alle sehnen: Vereint zu sein mit allen, die wir lieben und mit all dem, was wir lieben. Der Himmel ist eine nie zu Ende gehende Umarmung.

«Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben», sagte Marta zu Jesus mit einem leisen Ton des Vorwurfs. Diese Haltung – ebenfalls eine sehr menschliche – hat wieder mit dem Glauben an die Auferstehung Jesu Christi zu tun. Der auferstandene Herr hat durch seine Auferstehung am dritten Tag die Grenzen von Zeit und Raum für immer überwunden. Jesus ist immer bei uns und unter uns, er ist für uns da. Oft meinen wir, dass Gott uns im Stich gelassen hätte. Wir denken: Wenn er mir geholfen hätte, wäre dies oder jenes nicht geschehen. Marta bezeugt, dass sie ihren Glauben trotz dieses Gedankens nicht verloren hat: «Aber, auch jetzt weiss ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben». Sie sagt dies im Sinne von: Ich glaube schon, dass, wenn du für meinen Bruder gebetet hättest, er nicht gestorben wäre. Aber sie rechnet nicht mit der Aktualität der Auferstehung, mit der Auferweckung ihres Bruders im Hier und Jetzt. Jesus stellt grundsätzlich die Frage nach dem Glauben an ihn als «die Auferstehung und das Leben».

 

Im Herrn Geliebte! Für unsere Verstorbenen und für uns alle sollte Jesus die Auferstehung und das Leben sein. Der Tod ist wahrlich nicht das Ende, sondern der Übergang. Jesus Christus hat den Tod endgültig besiegt. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben, das uns immer trägt und begleitet. Er – das Leben – ist immer mit und bei uns. Wir gehen vom Leben hinüber zum Leben – von einem oft komplizierten Leben zum vollen, erfüllten Leben in ihm. Wir leben heute in der Spannung des «schon» und «noch nicht», trotzdem bin ich davon überzeugt, dass wir schon jetzt mehr im Himmel als auf Erden leben. Diejenigen, die bereits im Himmel sind, stehen uns nämlich bei und begleiten uns. Es ist daher sehr tröstlich und segensreich, dass uns die Kirche einmal im Jahr besonders daran erinnert und wir unserer Verstorbenen gedenken. Amen.

Bischof Joseph Maria Bonnemain
Chur, 2. November 2022