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Bistum Chur

Predigt von Bischof Joseph Maria zum Hochfest der Gottesmutter Maria

Liebe Schwestern und Brüder

Ich möchte heute meine Predigt mit einer Frage beginnen: Welches ist das Schlüsselwort des heutigen Evangeliums?

Ich würde meinen, dass das wichtigste Wort in der Schilderung des Besuches der Hirten beim Stall von Bethlehem das Wort ABER ist .

Zuerst eilten die Hirten nach Betlehem. Sie waren bestimmt neugierig, nachdem sie von den Engeln eine seltsame Botschaft erhalten hatten. Als sie dort ankamen, erzählten sie den Anwesenden, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war. Sie stellten fest, dass alles genau so war, wie es ihnen gesagt wurde. Sie begriffen, dass Gott am Wirken war. Deswegen kehrten sie am Schluss Gott preisend und lobend zurück. Die Hirten kommen und gehen, sie bewegen sich. Das Geschehene beeindruckte sie bestimmt. Was sie erlebten, erhellte für eine Weile ihre Stimmung, es brachte sie sogar Gott näher. Ihr Leben ging aber danach weiter, wahrscheinlich nicht viel anders – vermute ich – als vorher.

Die Leute, die dort waren und die Erzählung der Hirten hörten, staunten darüber und liessen sich für einen Augenblick von der neuen, ja übernatürlichen, himmlischen Stimmung mitreisen. Danach aber ging ihr Leben wahrscheinlich auch wie etwa vorher weiter.

„Maria ABER bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“. Das Aber, dieses Aber will klar erklären, dass Maria anders als alle anderen reagierte. Sie rennt nicht, sie spricht oder kommentiert auch nicht viel. In ihrem Herzen aber gibt es Platz für das grösste Wirken Gottes auf Erden. Die grösste und entscheidendste Veränderung des Universums fand in ihr – ohne Lärm, ohne Aufsehen – statt. Sie ist Mutter Gottes geworden, weil sie in ihr, in ihrer ganzen Existenz, in ihrem ganzen Dasein Gott und seinem Wirken keine Bedingungen und keine Grenzen stellte. Wie die Kirchenväter sagten: Gott wurde bereits in ihrem Herzen ihr Sohn, bevor er in ihrem Schoss ihr Sohn wurde. Als Maria bei der Verkündigung Ja sagte, hörte sie sozusagen auf, Maria zu sein und wurde anschliessend total, bedingungslos, ohne jegliche Schwankung Mutter Gottes, die Mutter unseres Erlösers. Ihr Leben identifizierte sich mit dem Leben Jesu. Bei ihr war die Mutterschaft nicht nur etwas rein Physisches, sondern eine ungetrübte, seelische, ganzheitliche Haltung. Sie lebte ganz und nur für diese Mutterschaft.

Im Herrn Geliebte! Wenn wir diese Haltung der Mutter Gottes tiefsinnig betrachten, können wir besser verstehen, dass der Heilige Paulus in seinem Brief an die Gálater von der Fülle der Zeit spricht. Er schreibt nämlich, wie wir gehört haben: „Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau“. Im ersten Augenblick ist es alles andere als einfach zu verstehen, dass Paulus von einer Zeit der Blüte, der Fülle spricht. Es ist als ob er jetzt, in unserer Zeit, in unserer heutigen Welt von der Fülle der Zeit sprechen würde. Wir würden sagen: Ist er blind? Weiss er nicht, dass unsere Welt ein Chaos ist, dass es in unserer Welt Kriege, Armut, Leiden, Gewalt, Sünde und Grausamkeit gibt? Hat er nicht von den Kriegen in der Ukraine, in Jemen, in Kongo, in Syrien gehört? Auch damals war die Lage sehr prekär. Palästina litt unter der Besetzung der Römer, es gab noch mehr Armut und Willkür als heute, und Seuchen, Hungersnot und Tyranneien. Wo finden wir die Fülle, von der Paulus spricht? Das versuchte ich bereits vorher zu sagen: Mitten in der Unbeständigkeit und des Egoismus der Menschen war das Herz Marias total bereit und offen für Gott: Nur so konnte Gott in die Welt kommen. Das Herz dieser Frau stellte die Fülle des Menschlichen und Irdischen dar. Ihr Herz stand nicht nur ein paar Augenblicke im Einklang mit dem Vorhaben Gottes, sondern unbeschränkt und dauernd.

In einem Film, den ich vor einigen Jahren schaute, gab es einen sehr interessanten Dialog zwischen einem deutschen Offizier und einem Afghanen. Er sagte dem Deutschen: „Du hast die Uhr, ich habe die Zeit“. Diese Aussage gab mir viel zu denken. Wir bewegen uns viel, wir unternehmen allerlei, unser Kopf und unser Herz sind voll von Gedanken, Wünschen, Plänen, Interessen, Phantasien. Manchmal sind wir Feuer und Flamme für ein gutes Vorhaben, auch im Bereich des Glaubens oder der Nächstenliebe, aber oft dauert diese Haltung nicht lange, wir lassen uns von anderen Angeboten ablenken, mitreissen. Die Hektik und die Unbeständigkeit zerren uns hin und her in verschiedenen Richtungen. In Herzen Marias war es anders.

Liebe Brüder und Schwester! Wir beginnen nun ein neues Jahr. Es wird nicht ein neues Jahr, wenn wir nicht entschlossen sind, uns mit höchster Priorität mit dem zu beschäftigen, was wirklich entscheidend ist, nämlich, dass Gott in unserer Welt, ja in der Mitte unserer Welt Fuss fassen kann. Einmal sagte Einstein: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten“. Im neuen Jahr werden wir bald feststellen müssen, dass alles beim Alten geblieben ist, ausser wir entschliessen uns dazu, dass Gott in der Mitte unseres Herzens wirklich den Mittelpunkt darstellt. Wenn wir in der Nachahmung Marias versuchen, ganz offen für das Wirken Gottes zu sein…, wenn wir versuchen, wie Maria, Ja zu sagen, zu dem, was Gott mit uns vorhat…, wenn wir Menschen werden, die in der Gottesgegenwart leben und handeln, dann wird unser Herz ein Zuhause Gottes sein und von unserem Herz aus wird Gott die Welt verändern können. Die Fülle der Zeit, die Blütezeit der Welt kann doch, soll doch in unserem Herzen beginnen.

Wir trauen um den gestern verstorbenen emeritierten Papst Benedikt XVI. dessen wie in dieser Eucharistiefeier gedacht haben. So möchte ich mit einigen Worten von ihm abschliessen: «Je näher der Mensch Gott ist, desto näher ist er den Menschen. Das sehen wir an Maria. Der Umstand, dass sie ganz bei Gott ist, ist der Grund dafür, dass sie auch den Menschen so nahe ist. Deshalb kann sie die Mutter jeden Trostes und jeder Hilfe sein: Jeder kann es in seiner Schwachheit und Sünde wagen, sich in jeder Art von Not an diese Mutter zu wenden, denn sie hat Verständnis für alles und ist die für alle offene Kraft der schöpferischen Güte. (…)  Sie wendet sich an uns und sagt: »Hab’ Mut, es mit Gott zu wagen! Versuche es! Hab’ keine Angst vor Ihm! Hab’ Mut, das Wagnis des Glaubens einzugehen! Hab’ Mut, dich auf das Wagnis der Güte einzulassen! Lass dich für Gott gewinnen, dann wirst du sehen, dass gerade dadurch dein Leben weit und hell wird, nicht langweilig, sondern voll unendlicher Überraschungen, denn Gottes unendliche Güte erschöpft sich niemals!« (Homilie, 8.12.2005).

In dieser Zuversicht wollen wir nun das neue Jahr beginnen und in diesem Sinne und gestützt auf diese Hoffnung wünsche ich Ihnen ein gesegnetes, glückliches neues Jahr! Amen.

Bischof Joseph Maria Bonnemain
Kathedrale Chur, 1. Januar 2023