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Bistum Chur

Predigt von Bischof Peter Bürcher anlässlich des Hochfestes der Geburt des Herrn Weihnachten, 25. Dezember 2020 Kathedrale in Chur

Kürzlich hat ein französischer Philosoph über die gegenwärtige, von der Pandemie geprägte Lage geschrieben: „Unsere Hilflosigkeit ist beunruhigender als die Heftigkeit des Ungemachs. Wir werden von einem hartnäckigen Erreger in Schach gehalten, der (…) unseren Stolz genauso herausfordert wie unseren Glauben an die Allmacht der Medizin. Dieselbe Menschheit, die sich noch vor fünf Jahren mit transhumanistischen Ideen und Unsterblichkeitphantasien brüstete, kommt jetzt nicht mit einer Atemwegserkrankung zurande“ (Pascal Bruckner, NZZ, 17. 12. 2020).
Man merkt es: Der Schock in unserer Gesellschaft sitzt tief. Denn wir erkennen wieder ganz neu: Wir sind auf dieser Welt fast schutzlos den Launen der Natur ausgeliefert. Wir sind an Leib und Leben bedroht. Aber das ist noch nicht alles. Wir sind sozusagen auch geistig bedroht. Denn nicht nur die Natur, die sich gerade von ihrer unbarmherzigen Seite zeigt, wirft Fragen auf, die wir nicht beantworten können. Unsere menschliche Existenz selbst ist letztlich ein Rätsel, nicht nur ein Rätsel der Natur, sondern ein Rätsel des Verstandes, des Geistes.
In diese Verunsicherung hinein erklingen jedes Jahr an Weihnachten die tröstenden Worte aus dem Hebräerbrief: „Vielfältig und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn“ (1,1f.). Und das wird dann jeweils noch überboten vom Beginn des Johannes-Evangeliums, den wir eben vernommen haben. Dort ist von „logos“, also vom „Wort“, die Rede, das Fleisch geworden ist. Und das bedeutet: Jesus Christus, wahrer Gott, wird wahrer Mensch, ein Mensch wie wir. Gott lässt uns durch Jesus Christus nicht nur eine Botschaft ausrichten, wie er es im Alten Bund durch die Propheten getan hatte. Sondern Gott wird selbst Mensch. Er kommt zu uns Menschen und schenkt uns seine Gemeinschaft. Gott lebt in Jesus Christus das Leben von uns Menschen, damit dieses unser Leben schon auf dieser Welt ein Ort der Gemeinschaft mit Gott ist. Und unser Herr Jesus Christus geht uns dann voran, in Gottes ewige Gemeinschaft, in die wir ihm folgen sollen, wenn unsere Tage auf dieser Welt zu Ende gehen.
Liebe Brüder und Schwestern. Das ist die von christlicher Hoffnung getragene Sichtweise auf unsere menschliche Existenz, auf eine Existenz, die aus sich heraus unverständlich bleibt. Denn wir Menschen können uns den Sinn unserer Existenz nicht selbst geben. Dieser Sinn kann uns nur geschenkt werden. Dieser Sinn des Ganzen ist zu uns gekommen. Wir können ja diesen Begriff griechischen „Logos“ nicht nur als „das Wort“ übersetzen. Sondern „logos“ heisst auch: „der Sinn“. Das meinen wir ja auch, wenn wir sagen, etwas sei logisch. Dieser Sinn der ganzen Welt, der Sinn unserer menschlichen Existenz, ist Fleisch geworden. Er hat unter uns gewohnt und er hat uns seine Gemeinschaft geschenkt.
Vielleicht haben die Menschen in den letzten Jahren und Jahrzehnten, in denen es trotz mancher Rückschläge doch immer aufwärts zu gehen schien, etwas vergessen, dass ihnen der Sinn ihrer Existenz nur geschenkt werden kann, dass sie ihn sich nicht selbst geben können. Und nun müssen sie erkennen, dass Gott zwar in unüberbietbarer Weise durch seinen Sohn Jesus Christus gesprochen hat, dass er aber in der Geschichte auch immer geheimnisvoll gegenwärtig bleibt und durch die Zeichen der Zeit spricht. Er tut es auch dadurch, dass er den Menschen die eigene Hilflosigkeit erfahren lässt, so, wie es eben jetzt wieder der Fall ist. So gesehen, ist die Zeit, die wir durchleiden müssen, durchaus auch heilsam. Denn sie führt uns auf den harten Boden der Tatsachen zurück. Und so ist die Zeit, die wir im Moment durchleben müssen, eine neue Einladung, die Gemeinschaft mit Gott anzunehmen, die er uns in seinem Sohn Jesus Christus schenkt.
Wir sind dabei nicht allein. Viele Christen vor uns sind in diese Schule Gottes gegangen. Sie haben durch die Zeichen der Zeit im Verlauf ihres Lebens Gott tiefer erkannt und mehr geliebt. Besonders schön ist das ausgedrückt in einem Gebet des evangelischen Theologen Jörg Zink: „Ich staune, Herr, über den Plan, nach dem mein Leben verläuft. Über die Wendungen, die mein Schicksal nahm, über seine Geradlinigkeit. Du greifst ein, und manchmal erkenne ich, dass es so kommen musste. Du machtest meine Gedanken und Pläne zunichte, und am Ende entdeckte ich: So war es gut”.
Liebe Brüder und Schwestern. Mögen auch wir einmal in den Wendungen, die unser Leben nahm, die unsichtbare Hand Gottes erkennen können. Denn wir dürfen gewiss sein: In seinem Sohn Jesus Christus hat Gott auch den irdischen Weg einer jeden einzelnen und eines jeden einzelnen von uns betreten. Er ist an der Seite von jeder und jedem mitgegangen. Auch wenn wir es nicht immer spüren: Er ist uns nahe und führt uns auch heute auf unserem Weg, ganz besonders mit Maria und dem hl. Josef.
In diesem Vertrauen, das uns das Weihnachtsfest von neuem schenkt, wollen wir weiter gehen. Wir tun es in einer Zeit, die in Welt und Kirche, auch in unserem Bistum, von grosser Ungewissheit geprägt ist. Gehen wir voran im Wissen, dass der menschgewordene Gott uns begleitet, Tag für Tag. Dann werden nicht nur wir einmal sagen können: „So war es gut“. Es wird der Herr selbst sein, der es zu uns sagt und der uns in sein ewiges Weihnachten aufnimmt. Amen.